Das ZfL

Das Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung ist ein geisteswissenschaftliches Institut für die Erforschung von Literatur in interdisziplinären Zusammenhängen und unter kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen. Damit schließt es auch methodisch an den Strukturwandel der historisch-hermeneutischen Fächer in den vergangenen Jahrzehnten an. Im Unterschied zu den überwiegend nationalphilologisch organisierten Literaturwissenschaften an den Universitäten hat das ZfL nicht nur einen weiten Begriff von Literatur, sondern fragt in Gestalt interdisziplinärer Grundlagenforschung nach der Genese verschiedener Literaturkonzepte, ihren künftigen Möglichkeiten sowie nach dem Verhältnis von Literatur und anderen Künsten oder kulturellen Praktiken. Das geschieht in den drei Programmbereichen Theoriegeschichte, Weltliteratur und Lebenswissen und in den Schwerpunktprojekten. Literatur ist dabei in allen Bereichen Gegenstand der Forschung, eröffnet aber auch Zugänge zu anderen Wissensfeldern und Erkenntnisformen. Dadurch werden neue Fragestellungen erschlossen, die aus der Perspektive einzelner Disziplinen herausfallen oder in ihnen nicht formulierbar sind. Übergreifendes Interesse gilt der Suche nach und Entwicklung von alternativen Beschreibungen unserer Moderne, ihrer Geschichte und ihres Selbstverständnisses. Die Forschung des ZfL orientiert sich an aktuell drängenden Fragen der Gegenwart, die in größere historische Zusammenhänge gerückt werden. Als relativ kleines unabhängiges Institut versteht sich das ZfL als Impulsgeber für nationale und internationale Forschungszusammenhänge, aber auch als kritischer Beobachter einer sich wandelnden Wissenschaftslandschaft.

Forschungsprofil

Die Forschungen des ZfL verteilen sich seit Ende 2015 auf die drei permanenten Programmbereiche Theoriegeschichte, Weltliteratur und Lebenswissen. Diese bilden historisch, systematisch und methodologisch einen Gesamtzusammenhang mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. In der historischen Perspektive stehen die drei Programmbereiche in Beziehung, weil ihre zentralen Begriffe zeitgleich in der Sattelzeit des 18. Jahrhunderts entstehen (Leben, Weltliteratur) oder ihre Bedeutung sich damals stark verändert hat (Theorie). Ihr systematischer Konnex besteht in der inhaltlichen Verflechtung und langen Strahlkraft der mit ihnen verbundenen Diskurstraditionen. So zeitigte beispielsweise die neue Gattung des Romans, in dem das Verhältnis von Leben und Literatur zu einem Hauptthema wird, auch neue Betrachtungsweisen theoretischer Provenienz. Viele Aspekte des Organismus-Begriffs der frühen Biologie fanden Eingang in die Kunsttheorie und die philosophische Ästhetik. Methodologisch kohärieren die drei Bereiche durch den gemeinsamen Horizont historisch-hermeneutischer Zugangsweisen, die dabei je nach Gegenstand sehr unterschiedlich konfiguriert sein können. Als besonders fruchtbar und profilbildend für die Arbeit des ZfL haben sich die Integration religionsgeschichtlicher Perspektiven sowie bildwissenschaftlicher Fragen und Verfahren erwiesen.

Theoriegeschichte

Vor ihrer Reduktion auf ›schöne Literatur‹ am Ende des 18. Jahrhunderts gehörten zur alteuropäischen ›Litteratur‹ auch andere Felder der Gelehrsamkeit wie Rhetorik und Poetik, Religion, Naturgeschichte und andere Künste. Die damals ausgebildeten Denktraditionen und Deutungspraktiken sind um 1800 nicht einfach verschwunden, sondern wurden transformiert. Eine historisch besonders wirksame Nachfolgeformation ist das als Literaturtheorie prominent gewordene, bis in die Gegenwart stetig expandierende und sich verändernde Feld der Theoriebildung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Kultur kann es stets nur in einem vorstrukturierten Wahrnehmungshorizont geben und damit unter Bedingungen, deren Erforschung mit dem Begriff ›Theorie‹ seit dem späten 18. Jahrhundert einen eigenen Namen und eine eigene Geschichte hat. Theoriegeschichte ist also sehr viel umfassender zu verstehen als die Abfolge der Theorien und ›turns‹ seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts.

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Weltliteratur

Mit Weltliteratur wird am ZfL ein Begriff aufgenommen, der parallel zu den Nationalphilologien im 19. Jahrhundert entstand, jedoch auch zu deren Überwindung beitragen kann. Aktuell wird der Begriff Weltliteratur mit Blick auf die Globalisierung und deren Folgen für Produktion und Rezeption von Literatur unter sich rasant verändernden medialen, technologischen und politischen Bedingungen verwendet. Weltliteratur kann darüber hinaus auch als Ausdruck der Einsicht verstanden werden, dass Literatur kein Abbild oder Reflex jeweiliger Wirklichkeiten ist, sondern selbst eine Weise der Weltgestaltung und Wirklichkeitsbearbeitung. Folglich geht es nicht um die Erforschung aller Literaturen der Welt, sondern um die exemplarische Erprobung der Möglichkeiten von Literatur, nicht gleich alles, aber doch sehr viel, über unsere Welt zu wissen. In diesem Sinne stehen die osteuropäischen Literaturen am ZfL seit langem im Fokus. Sie gehören in einen religionsgeschichtlich, ethnisch und politisch brisanten kulturellen Raum am vermeintlichen ›Rand‹ Europas, der es gerade angesichts aktueller Krisen erlaubt, kritische Perspektiven auf die hegemoniale Selbstdeutung Europas zu entwickeln.

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Lebenswissen

Literarisches und theoretisches Wissen waren nie Selbstzwecke, sondern dienten unter historisch wechselnden Bedingungen dem Leben des Einzelnen wie dem der Kollektive. Dieser im antiken Bildungskonzept, im modernen Bildungsroman und in Begriffen wie Nationalliteratur oder Kulturnation kanonisierte Glaube daran, dass die Künste ein auch lebensweltlich relevantes Wissen produzieren und tradieren, steckt in einer neuen Krise, seit Naturwissenschaften zunehmend auch Gegenstandsbereiche der vormaligen Geisteswissenschaften verhandeln (etwa die Bestimmung des freien Willens) und moderne Technologien ganz neue Anwendungsfelder, Gegenstandsbereiche und Fragestellungen gezeitigt haben. Im Zeichen dieser aktuellen Herausforderungen des Modells der ›zwei Kulturen‹ wird im Programmbereich »Lebenswissen« geforscht: interdisziplinär und unter besonderer Berücksichtigung der Biologie als Leitwissenschaft vom Leben. Dabei sind die Möglichkeiten eines gemeinsamen Horizontes auszuloten, in dem Naturdinge und Menschen, Artefakte und Organismen befragt werden können, ohne die jeweils fächerspezifischen Logiken und Traditionen zu ignorieren oder sie in einem konturlosen Kulturbegriff einzuebnen.

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Schwerpunktprojekte

In den Schwerpunktprojekten des ZfL werden Fragestellungen bearbeitet, die quer zu den Themenfeldern der Programmbereiche Theoriegeschichte, Weltliteratur und Lebenswissen verlaufen; in ihnen sind daher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus diesen verschiedenen Bereichen vereinigt.

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Geschichte

Das ZfL besteht in Trägerschaft der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin e.V. (GWZ) seit 1996. Gründungsdirektor war der Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert (†2015). Vorangegangen war eine vierjährige Übergangsphase innerhalb der Förderungsgesellschaft Wissenschaftlicher Neuvorhaben mbH, die 1992 von der Max-Planck-Gesellschaft eingerichtet worden war, um die geisteswissenschaftliche Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR – darunter auch die des Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL) – in neue Institutionen zu überführen. Ehemalige ZIL-Mitarbeiter haben die Arbeit des ZfL entscheidend mitgeprägt. Zu den Projekten, die den Zeitenwechsel überdauert haben und in denen dieser auch einen Ausdruck fand, gehört das bereits seit den 1980er Jahren konzipierte, aber erst 2000 bis 2005 in sieben Bänden erschienene historische Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe. Federführender Herausgeber dieses Projekts war der frühere ZIL-Bereichsleiter und langjährige ZfL-Ko-Direktor Karlheinz Barck (†2012). Seit 2017 vergibt das ZfL ihm zu Ehren den Carlo-Barck-Preis, mit dem eine Dissertation auf dem Gebiet der Literatur- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet wird, die durch innovative Fragestellung und originelle Anlage besticht. Begriffsgeschichtlichen Verfahren und begriffsgeschichtlicher Forschung ist das ZfL bis heute verpflichtet.

Auch nach dem Wechsel der Direktion zu Sigrid Weigel im Jahr 1999 blieb das ZfL zunächst auf kurzfristige Fördermittel (vor allem seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft) angewiesen. Nach einer Evaluierung durch den Wissenschaftsrat im Jahr 2006 wurde das ZfL – ebenso wie die Partnerinstitute innerhalb der GWZ, das Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) und das Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) – von 2008 bis 2019 hauptsächlich durch eine Programmförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert. Hinzu kam eine Grundausstattung durch das Land Berlin sowie selbständig eingeworbene Drittmittel anderer Förderinstitutionen. In dieser Zeit hat sich das ZfL zu einem weltweit anerkannten Zentrum für innovative Kulturforschung mit besonderem Interesse an den Leitfiguren der ›Ersten Kulturwissenschaft‹ (Aby Warburg, Sigmund Freud, Walter Benjamin) und am kulturellen Nachleben vormoderner Konzepte und Traditionen entwickelt. Profilbildend wirkt vor allem sein interdisziplinärer und historisch gesättigter Forschungsansatz im Ausgang von aktuellen Fragestellungen. Dieser doppelten Programmatik der Interdisziplinarität und des Aktualitätsbezugs bleibt das ZfL, das seit 1. Januar 2019 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft ist, auch weiterhin treu.

Weder im In- noch im Ausland existiert ein Forschungsinstitut, das sich jenseits des überlieferten Fächerkanons und im engen Kontakt mit anderen Disziplinen dem weitläufigen Feld der Literatur widmet. Die Konzentration auf dieses Alleinstellungsmerkmal und sein enormes Potential ist in den Vordergrund gerückt, seit Eva Geulen im August 2015 das Amt der Direktorin übernommen hat. Was Literatur bedeutet und was ihre Erforschung leisten kann, ist nach Jahrzehnten der gewiss auch bereichernden Gegenstandserweiterungen, der Überforderung wie der Unterforderung der Literaturwissenschaften durch rasch wechselnde ›turns‹ überhaupt erst einmal wieder neu zu fragen.

siehe auch

Abb. oben: © Dominik Flügel