Programmbereich Lebenswissen

Als sich die modernen Territorialstaaten um das Leben und Sterben ihrer Bürger zu kümmern begannen, entstand mit neuen Verfahren wie der Statistik Biopolitik als ein neues Wissen vom Leben. Es organisiert und bestimmt die westlichen Gesellschaften bis heute. Weil die Politik unter dem Druck der modernen Lebenswissenschaften ihre Entscheidungskompetenzen weitgehend an das Recht abgetreten hat, sind wir gegenwärtig Zeugen einer beispiellosen Verrechtlichung des Lebens. Dieser Verrechtlichung korrespondiert eine Entrechtung von Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, die auf ihr nacktes Leben reduziert sind und keine Rechtsansprüche haben (aktuell: die Flüchtenden).

Es gibt aber auch andere Fronten, an denen das Wissen vom Leben in das Leben und sein überliefertes Verständnis massiv eingreift und beides verändert. Neue Technologien haben nicht nur neue Anschauungen vom Leben hervorgebracht (etwa in den bildgebenden Verfahren), sondern auch neuartige Maschinen. Diese sind in der Lage, etwa im Fall der artificial intelligence, selbständig zu agieren und könnten deshalb als autonom gelten. Die stets labile Grenze zwischen Mensch und Maschine, Lebendigem und Nicht-Lebendigem gerät dadurch verschärft unter Druck. Dazu gehört, dass die ›harten‹ und dabei vor allem die jungen Neurowissenschaften zunehmend Deutungshoheit auch über diejenigen Aspekte des Lebens beanspruchen, für die sich traditionell die Geisteswissenschaften zuständig glaubten.

Am ZfL wird dieser kritischen Situation durch interdisziplinäre Forschungen zu den unterschiedlichen Formen und vor allem zur vorangegangenen Geschichte des Lebenswissens Rechnung getragen. Im 18. Jahrhundert wurde in verschiedenen Diskursen, vor allem in der Ästhetik, der frühen Biologie und der Literatur, Leben und Lebendiges als neuer Gegenstand sui generis mit eigenen Beobachtungsregeln erschlossen. Dazu gehörte vor allem der Befund, dass Lebendiges mehr ist als die Summe seiner Teile und dass es sich zeitlich entfaltet. Erst mit der disziplinären Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert trennten sich die Zugangsweisen der Lebenswissenschaften von denen der Geisteswissenschaften, die Leben und Lebensäußerungen mit ihren Methoden untersuchten. An den vor-, auch multidisziplinären Ursprung des Lebenswissens im 18. Jahrhundert anknüpfend, soll die Geschichte dieser Spaltung im Bereich »Lebenswissen« weniger überwunden als über Forschungen zu ihrer Genese und ihrer weiteren Entwicklung neu rekonstruiert werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Untersuchung der Formen, in denen das vielfältige Wissen vom Leben seit der Vormoderne tradiert wurde. Deren diachrone Analyse über die Zäsur der Sattelzeit hinweg gibt Aufschluss über eine Geschichte des Wissens vom Leben, die sich nicht in einer Nacherzählung der Fächerentwicklungen erschöpft.

Dabei ist die besondere Funktion der Literatur noch einmal hervorzuheben. Wie zu leben oder nicht zu leben sei, war jahrhundertelang ein zentrales Anliegen der Philosophie und der Religionen. Während die Literatur immer schon eine oft eigenwillige Vermittlungsform auch philosophischer oder religiöser Anliegen war, rücken neuzeitlich nicht nur neue Disziplinen zur Lebensführung nach, wie die Pädagogik, sondern auch die sich um 1800 emanzipierenden Künste, zunächst und emphatisch, die Literatur. Seither sind Leben und Literatur ein bevorzugter Gegenstand von Literatur. Auch moderne Literatur ist eine Form des Lebenswissens geblieben und in dieser Perspektive zu erforschen.

Laufende Forschungsprojekte

Abgeschlossene und ehemals in diesem Programmbereich bearbeitete Projekte

(Auswahl, chronologisch absteigend sortiert nach Beendigungsjahr)