Am Nullpunkt der Familie: Generationen und Genealogien in der Gegenwartsliteratur
Auf dem Buchmarkt und im Feuilleton boomen die Generationserzählungen: 'Generation' und 'Familie' bilden populäre Deutungsmuster der Vergangenheit sowie zentrale Kategorien gesellschaftlicher Zukunftsvisionen und -ängste rund um den demographischen Wandel. Die gegenwärtige Literatur reflektiert dieses Denken, indem sie von Generationenverträgen und Generationskonflikten erzählt, von vergangenheitsbesessenen Familiengeschichten und selbstgewählten Genealogien, vom Verweigern der Zukunft und vom Nachleben der Toten. Die Konjunktur genealogischen Erzählens verdrängt oder kompensiert also keineswegs die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen von 'Familie' und 'Generationenverhältnis'. Ebenso wenig geht es um das nostalgische Wiederaufleben eines Genres, das z.B. Thomas Mann mit Hanno Buddenbrooks Schlussstrich unter die Familienchronik längst ironisch verabschiedet hat. Vielmehr erprobt die gegenwärtige Literatur Möglichkeiten eines genealogischen und generationellen Erzählens, das – jenseits von konventionellen Familiensagas – die Verknüpfungen zwischen den Generationen sichtbar und zugleich ungewiss macht: durch Familienmythologie und -geheimnisse, durch Schuld und Erinnerung, durch ökonomische und versorgerische Ansprüche, durch Vergessenwollen und "familiäre Unambitioniertheit" (Arno Geiger). Eine solche Literatur "am Nullpunkt der Familie" trägt entscheidend dazu bei, die heutigen kulturellen Verhältnisse zwischen Jung und Alt, Eltern und Kindern, Lebenden und Toten, Vergangenheit und Zukunft zu erforschen.
Zahlreiche genealogische Romane richten ihren Fokus auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, häufig aus der Perspektive der 'dritten Generation'. Sie betonen neben der Unausweichlichkeit der Vergangenheit auch die Distanz zum Erzählgeschehen. Daraus resultiert eine produktive Spannung von Wissen(wollen) und Nichtwissen(wollen): so bei der Entrümpelung des großelterlichen Hauses, die jedoch die Erzählstimmen der Toten nicht verscheucht (Arno Geiger: Es geht uns gut, 2005), so im Nachleben alter Geheimnisse, das den genealogischen Zusammenhalt einer jüdisch-katholischen Familie sowohl stiftet als auch gefährdet (Eva Menasse: Vienna, 2005), oder in den verschwiegenen Erinnerungs- und Schuldübertragungen über Generationen, die eine kasachisch-deutsche Auswanderungsgeschichte im Zeichen von Nationalsozialismus und Stalinismus bestimmen (Eleonora Hummel: Die Fische von Berlin, 2005). Große zeitliche Distanz und umso größere erzählerische Nähe kennzeichnen Georges-Arthur Goldschmidts Texte (zuletzt Die Befreiung, 2007), die von den Konsequenzen einer Zerstörung des genealogischen Zusammenhalts durch das NS-Regime und von der schwierigen Identitätsbildung durch außerfamiliale Instanzen wie etwa das Internat erzählen. Ebenfalls außerhalb des "Verwandtenapparats" angesiedelt, wählt der Protagonist aus Sibylle Lewitscharoffs Roman Consummatus (2006) sich selbst eine Vielzahl familialer und kultureller Genealogien – nicht zuletzt als Ausweg aus der deutschen Vergangenheit. Im Kontrast zu diesem Leben mit den Toten setzt Thomas von Steinaecker (Wallner beginnt zu fliegen, 2007) mit der Gegenwart ein, um dann eine Familiengeschichte durch vier Generationen – zugleich Mediengenerationen – bis weit ins 21. Jahrhundert zu entwickeln. Den familialen und gesellschaftlichen Fallen zukunftsträchtiger Generationenverträge gehen auch John von Düffels Romane Houwelandt (2004) und Beste Jahre (2007) nach, während in Annette Pehnts Haus der Schildkröten (2006) ein Altenheim den zukunftslosen Schauplatz bildet, auf dem pflegebedürftige Eltern das Leben ihrer gealterten Kinder fest im Griff haben. Die Argumentationsfigur 'Generation' – die das Denken des demographischen Diskurses sowie die populäre und wissenschaftliche Historiographie entscheidend bestimmt – wird also in literarischen Texten zugleich genutzt und hinterfragt, um an die Stelle quantitativer Prognosen ein qualitatives Erforschen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu setzen.
Program
Freitag, 15. Februar 2008
14.30 - 16.30 Uhr
Lesung Arno Geiger, anschl. Gespräch mit Christina Pareigis
Lesung Eleonora Hummel, anschl. Gespräch mit Tatjana Petzer
17.00 - 19.00 Uhr
Lesung Eva Menasse, anschl. Gespräch mit Esther Kilchmann
Lesung John von Düffel, anschl. Gespräch mit Kai Bremer
20.00 Uhr
Am Nullpunkt der Familie
Podiumsgespräch mit John von Düffel, Arno Geiger, Eleonora Hummel, Eva Menasse, moderiert von Kai Bremer und Franziska Thun-Hohenstein
Samstag, 16. Februar 2008
13.30 Uhr
Zählen und Erzählen in Generationen: Alte und neue Konzepte
Vortrag Ulrike Vedder und Stefan Willer
14.30 - 16.30 Uhr
Lesung Annette Pehnt: Die Autorin ist erkrankt und kann leider nicht teilnehmen, aus ihren Texten lesen die Moderatoren.
Lesung Thomas von Steinaecker, anschl. Gespräch mit Andreas Pflitsch
17.00 - 19.00 Uhr
Lesung Sibylle Lewitscharoff, anschl. Gespräch mit Erik Porath
Lesung Georges-Arthur Goldschmidt, anschl. Gespräch mit Falko Schmieder
20.00 Uhr
Generationen und Genealogien
Podiumsgespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt, Sibylle Lewitscharoff, Thomas von Steinaecker, moderiert von Erik Porath und Stefan Willer