Der Osten liegt in der Mitte. Literarische Ost-West-Passagen
Die Zäsur des Mauerfalls hat die geopolitische und mentale Topographie Europas nachhaltig verändert: Grenzen haben sich verschoben, zementierte Identitäten erwiesen sich als brüchig. Zwanzig Jahre danach nun haben literarische Erkundungen von territorial-kulturellen Zugehörigkeiten, Genealogien und Raumentwürfen Hochkonjunktur. In den letzten Jahren haben zudem Autorinnen und Autoren die literarische Bühne betreten, die ein freieres literarisches Spiel mit verschiedenen Semantiken des Ostens betreiben und die Frage nach dem Zusammenhang von geographischem Raum, Poetik und Kultur ins Zentrum ihrer literarischen Reflexion stellen. Dabei werden gewohnte Perspektiven durchbrochen, imaginäre Topographien oder literarische Genealogien von Gegenden eines versunkenen Mitteleuropas entworfen.
Zu den bevorzugten literarischen Sujets zählen Ost-West-Passagen, in denen die Verschiebungen, Verwerfungen und Umkodierungen der (ost)europäischen Topographie der letzten zwei Jahrzehnte erkundet werden. Eine solche Auseinandersetzung mit – heiteren oder melancholischen – Wahrnehmungen ›fremder‹ Räume und Gepflogenheiten gewinnt in dem Maße an Tiefenschärfe, wie historische, autobiographische oder philosophische Aspekte das Erzählen bereichern. Dabei reicht das Spektrum der entworfenen Bewegungsmuster von Vertreibung und Zwangsdeportation bis hin zu neu erworbenen Möglichkeiten einer schier grenzenlosen Bewegungsfreiheit. So hat Herta Müller gemeinsam mit Oskar Pastior am Buchprojekt Atemschaukel (2009) gearbeitet, in dem die Zwangsdeportation von Rumäniendeutschen in die sowjetische Ukraine zwischen 1945 und 1950 rekonstruiert wird. Eine Gegenperspektive zu dieser Erfahrung von Gewalt entfaltet Emma Braslavsky in ihrem Debütroman Aus dem Sinn (2007), der die wunderliche Geschichte einer kleinen Gemeinde vertriebener Sudetendeutscher in der DDR zwischen Erinnerung und Zukunft erzählt. Mit der Migrationsrichtung von Ost nach West verbindet sich vielfach die zum Stereotyp geronnene Hoffnung auf ein Leben im 'gelobten Land'. Dieses gängige Erwartungsmuster ist zum Gegenstand unterschiedlichster literarischer Szenarien avanciert, so in Yadé Karas Romanen, wenn sie etwa in Selam Berlin (2003) ›deutsch-deutsche‹ Ost-West-Unterschiede aus einer ›deutsch-türkischen‹ Perspektive thematisiert. Sprachliche Ost-West-Passagen unternimmt die mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin Esther Kinsky, die in ihrem Debütroman Sommerfrische (2009) das ungarisch-rumänische Grenzgebiet und dessen Umbrüche zeichnet.
Entdeckungen werden aber vielfach auch und gerade in scheinbar gewohnten Räumen gemacht. Literarische Semantiken des Ostens in der neueren Literatur entwerfen geopoetische Modelle zwischen bisweilen schmerzhaften Verlusterfahrungen – Bora Ćosić nennt den Bericht seiner Reise durch das frühere Jugoslawien Die Reise nach Alaska (2007) – und einer spielerisch-leichten (Wieder-)Entdeckung pluraler Kulturräume. »In Europa liegt der Osten paradoxerweise dort, wo die Mitte des Kontinents liegt«, formulierte der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch pointiert, dessen Texte literarische Genealogien von Gegenden eines versunkenen Mitteleuropas sind. Diese »Mitte des Kontinents« beschäftigt auch den Filmemacher Stanisław Mucha, der in seinem Dokumentarfilm Die Mitte (2004) eine Reihe von deutschen, österreichischen, polnischen oder ukrainischen Stätten besucht, die sich genau an jenem Mittelpunkt verorten. Dževad Karahasan erkundet in seinen fiktionalen und essayistischen Texten – etwa Das Buch der Gärten (2002) oder Berichte aus der dunklen Welt (2007) – den europäischen Osten als Übergangsraum vom Okzident in den Orient, als Grenzraum zwischen Christentum und Islam. Die ›Orientalische Frage‹ erkundet auch der Künstler und Schriftsteller Haralampi G. Oroschakoff in seinem historischen Panorama »Die Battenberg-Affäre« (2007). Peter Demetz (geb. 1922 in Prag) verknüpft in seinen Erkundungen Historisches und Persönliches. Im jüngst erschienenen Buch Mein Prag (2007) erinnert er an seine Jugendzeit und zeichnet zugleich das Portrait von Prag als Ort eines produktiven Miteinanders von tschechischer, jüdischer und deutscher Kultur.
Program
Freitag, 4. Dezember 2009
14:30-16:30 Uhr
Dževad Karahasan: Lesung und Gespräch mit Hildegard Kernmayer
Emma Braslavsky: Lesung und Gespräch mit Daniel Weidner
17:00 Uhr
Yadé Kara
Die Autorin ist leider erkrankt, die Moderatoren lesen aus ihren Texten.
20:00 Uhr
Stanislaw Mucha: Filmpräsentation Die Mitte und Gespräch mit Tile von Damm
Samstag, 5. Dezember 2009
15:00-17:00 Uhr
Esther Kinsky: Lesung und Gespräch mit Christina Pareigis
Juri Andruchowytsch: Lesung und Gespräch mit Franziska Thun-Hohenstein
17:30-19:30 Uhr
Haralampi G. Oroschakoff: Lesung und Gespräch mit Zaal Andronikashvili
Bora Cosic: Lesung und Gespräch mit Armin Schäfer
20:00 Uhr
"Literarische Ost-West-Passagen": Podiumsgespräch mit Juri Andruchowytsch, Esther Kinsky, Stanislaw Mucha; Moderation: Franziska Thun-Hohenstein und Ulrike Vedder