Lecture in the context of the exhibition »Satt?«
08 Jun 2010 · 8.30 pm

"Der Wal als Speisefisch". Zu Herman Melvilles Roman Moby-Dick

Venue: Museum für Kommunikation, Leipziger Str. 16, 10117 Berlin-Mitte
Organized by Erik Porath

Program

Vortragsreihe im Rahmen der Ausstellung "Satt? – Kochen | Essen | Reden"

Kooperation des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin mit dem Museum für Kommunikation Berlin

 

Zum Vortrag
Den Wal als Speisefisch zu bezeichnen, wie Herman Melville es in seinem großartigen Roman Moby-Dick unternimmt, hat etwas Anachronistisches, Atavistisches und Groteskes. Denn der Naturrohstoff Wal wurde zu Melvilles Zeit schon längst nicht mehr zu Ernährungszwecken, sondern für alle möglichen nicht zum Verzehr bestimmten Industrieprodukte gejagt, erlegt und verarbeitet. Sich den Wal als mundgerechte Mahlzeit vorzustellen, führt die Phantasie zurück aus dem Zeitalter maritimer Industrie in gleichsam vorzivilisatorische Stufen, und die Portionierung dieses riesigen Tieres auf das menschliche Maß, dieses ungeheuerlichen meergeborenen Fleischberges, mutet mehr als lächerlich, geradezu absurd an.

Wenn man bedenkt, wie einfach, ja erbärmlich die Ernähung der einfachen Seeleute sich an Bord der Walfangschiffe gestaltete, dann kann man Melvilles Ausführungen zum Wal als Speisefisch mit seinen mäandernden Abschweifungen und philosophischen Überlegungen nur für einen maritimen Sarkasmus halten. Doch allein aus dem Kontrast heraus kann ein solches Thema überhaupt flott gemacht werden: Denn was wäre schon der Reflexion würdig an einer eintönigen, groben und zuweilen ungenießbaren Speise aus Schiffszwieback, Pökelfleisch und Konservendosen, nur selten durchbrochen von frisch gefangenen Früchten des Meeres, die den Matrosen und Harpunieren über Monate, gar Jahre hinweg als Sättigung diente?

Es ist die kulturelle Fallhöhe zwischen dem „Gourmand“, dem starken Esser, den Melville in diesem Zusammenhang erwähnt, und dem Fraß, welcher der gemeinen Mannschaft vorgesetzt wurde. Nicht nur an der Qualität der Nahrung, sondern auch an den Tischsitten kann abgelesen werden, in welcher sozialen Stellung sich die Fahrensleute an Bord befinden. Die Position des Kapitäns ist unangefochten, und gottgleich thront er über allem, verkörpert das Gesetz und teilt jedem das Seine zu. Und nicht zuletzt nimmt Melville die Gelegenheit wahr, sich über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, zwischen kulturell-religiöser Entwicklung und ihrer natürlichen Lebensgrundlage, zwischen zivilisierter Menschheit, Kannibalismus und Barbarei zu ergehen.