»Imperiale Emotionen«. Zur Konzeptualisierung ost-westlicher Affektkulturen angesichts der Ukraine-Krise
Program
(Stand: 12.11.2014)
Freitag, 05.12.2014
14.30 Eröffnung, Einführung
15.00–16.30 Postimperiale Kulturmodelle: Affekte und Konflikte
- Andrij Portnov (Berlin): Galician Reductionism, or Inner Orientalism of the Ukrainian pro-European Intellectual Discourse
- Wilfried Jilge (Basel/Moskau): Die Ukraine aus der Sicht des »Russkij Mir«
17.00–18.30 Postkoloniale Zugehörigkeiten: Phantasmen und Obsessionen
- Tatjana Hofmann (Zürich): Cultural Cringe. Postkoloniale Strategien essentialisierender Identitätsstiftung
- Roman Dubasevych (Wien): Helden sterben nicht oder Schlafwandeln in einen Zusammenprall der Zivilisationen
Samstag, 06.12.2014
9.30–11.00 Identitäre Phantomschmerzen: Trauer und Topographie
- Sabine von Löwis (Berlin): Hybride Raumproduktionen. Phantomgrenzen als Konzept zur Erklärung ambivalenter Identifikationsräume in der Ukraine
- Sebastian Cwiklinski (ZfL): Trauer und Reenactment: Die Erinnerung an die Deportation der Krimtataren als gemeinschaftsstiftendes Moment
11.15–12.45 Postutopische Imaginationen: Mythifizierung und Rekodierung
- Nina Weller (Berlin): Fantastische Grenzerkundungen des (neo)imperialen Mythos in russischer Gegenwartsliteratur
- Susanne Frank (Berlin): Reaktionen der russischsprachigen ukrainischen Lyrik auf die politische Krise
13.00 Abschlussdiskussion
Kommentar: Zaal Andronikashvili (ZfL)
Mit der Aufnahme der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer in die Russische Föderation im März 2014 und der anschließenden aktiven russischen Unterstützung der Sezessionskämpfe ostukrainischer Separatisten als Reaktion auf den politischen Erfolg des »Euromaidan« in der Ukraine scheint eine nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einsetzende Periode der Neuorientierung postsozialistischer Staaten zu einem gewissen Ende gekommen zu sein. Anstelle konfliktgeladener Kompromisse dominierten monatelang leidenschaftliche Anklagen und Aggressionen: »Imperiale Emotionen« sah die Schriftstellerin Svetlana Alexijewitsch in Putins Russland wieder aufleben, während umgekehrt eine nicht weniger angstbesetzte, aus dem Westen kommende »faschistische« Gefahr beschworen wurde. Alle »postimperialen« und pluralen Konzeptualisierungen diversifizierter Gesellschaften schienen mit einem Mal identitärer Eindeutigkeit, lang tradierten Vorurteilen und von tiefem Misstrauen geprägter Abneigung gewichen zu sein. Statt »Putin kaputt« errang der russische Präsident im eigenen Land Rekordzustimmungswerte, während er im Ausland als unberechenbarer »Brandstifter« und Aggressor fungierte: Die russische Annexion der Krim und der ostukrainische Sezessionskrieg werden begleitet von längst überwunden geglaubten, von starken Affekten geprägten, teils höchst ambivalenten Polarisierungen.
Doch wie lässt sich die extreme Emotionalisierung des Konflikts um die Ukraine, die eine starke Bereitschaft zu Gewalt und heroischen Ruhmestaten signalisierte, kulturwissenschaftlich erklären? Scheinen in diesen Selbstverortungen und Fremdzuschreibungen tatsächlich zivilisatorische »Phantomgrenzen« auf, die über die Jahrhunderte immer wieder aktualisiert werden können? Sind es die unverarbeiteten Traumata der Stalin-Zeit und des Zweiten Weltkriegs, die in postsozialistischer Zeit als politisches Reenactment erneut durchgespielt werden? Geht es um eine »postimperiale« Selbstüberschätzung seitens Russlands und um »postkoloniale« Überreaktionen seitens der Ukraine, in der die Wunden und Verwerfungen des Zusammenbruchs der sozialistischen Welt noch nachwirken? Oder lassen sich die omnipräsenten Tradierungen religiöser und nationalistischer Symboliken und Heldenikonen symptomatisch deuten für postutopische Gesellschaften, denen im Zeichen eines globalisierten »Empire« jegliche positive Zukunftsvision abhanden gekommen ist?
Auf dem Workshop soll solchen Fragen jenseits der Tagespolitik in kultur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive am Beispiel Russlands und der Ukraine nachgegangen werden, indem auch das methodische und begriffliche Instrumentarium mit reflektiert wird, mit dem die postsozialistischen Gesellschaften und Kulturen Osteuropas in den letzten Jahrzehnten beschrieben und analysiert worden sind.