Literarische Kritik der ökonomischen Kultur - Zur Rückkehr der Arbeitswelt in die Gegenwartsliteratur
In Kooperation mit dem Literaturhaus Berlin.
In der Literatur der Gegenwart ist die Rückkehr eines Motivs in den Horizont der literarischen Bearbeitung von Erfahrungen zu verzeichnen: Ökonomie und Arbeit. Mit den Transformationen der Arbeitswelt durch die neuen elektronischen Technologien, die zur bestimmenden Wirtschaftskraft geworden sind, richtet sich das literarische Interesse nun – da es Ökonomie, Business und Arbeitswelt als ergiebige Sujets wiederentdeckt – auf die ökonomischen Kräfte und deren politische, unternehmerische oder wissenschaftliche Deutung als schicksalhaft oder steuerbar, aber auch auf die abgründigen Kehrseiten wirtschaftlicher Euphorie. Dabei zeichnet sich die Literatur durch eine Vielfalt der Berührungspunkte wirtschaftlicher und sprachlich-literarischer Prozesse aus.
Etliche Schriftsteller interessieren sich gerade für die kulturellen und symbolischen Aspekte der Arbeitswelt, d.h. für die übermächtig anmutende Verstrickung von Sprache, Denken und Mentalität in die Allgegenwart wirtschaftlicher Systeme. Sie untersuchen Phänomene wie die Zirkulation spezieller Sprachmuster der IT-Branche (Kathrin Röggla: wir schlafen nicht, 2004), die Kollisionen zwischen unternehmerischen Plänen für Übernahmen und Jointventures einerseits und deren jeweilige Sprachwelten andererseits (Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir sterben, 2002), das libidinös besetzte Verhältnis zwischen Chef und Angestellten (Georg Klein: Anrufung des blinden Fisches, 1999; Über die Deutschen, 2002), die letztlich enttäuschten Versprechen einer Partizipation an Wirtschaftsmacht und -gestaltung (Dirk Kurbjuweit: Nachbeben, 2004; Unser effizientes Leben, 2003). Anders als die Angestelltenliteratur der Weimarer Republik mit ihren Sekretärinnen und Buchhaltern, ihren Verkäufern und Vertretern, anders aber auch als die ‚Literatur der Arbeitswelt’ der 60er und 70er Jahre thematisiert die jüngste Literatur zumeist eine technisch hochgerüstete Dienstleistungsbranche mit hochqualifizierten Mitarbeitern. Deren Kommunikationen und Zirkulationen führt Rainer Merkels Das Jahr der Wunder (2001) in der Werbebranche vor – nicht mit dem zynischen Blick eines Michel Houellebecq, Frédéric Beigbeder oder Bret Easton Ellis, sondern aus einer Perspektive des Staunens. Diese Perspektive findet sich auch in Anne Webers Erzählung Gold im Mund (2005), in der eine Schriftstellerin ihren Arbeitsplatz in ein Großraumbüro verlegt, und zwar nicht, um sich den dortigen Arbeitsabläufen einzupassen, sondern um als ein selbstbeobachtender ‚Fremdkörper’ die Veränderungen des eigenen Wahrnehmens und Schreibens zu registrieren. Der einzige Arbeitsplatz im Foyer einer Agentur für Arbeit, inmitten von wartenden Arbeitslosen, ist das Café Umberto, titelgebend für Moritz Rinkes neuestes Stück (UA September 2005). Die Geschichten um Arbeit, Arbeitslosigkeit und Liebe, die sich dort ereignen, erzählen auch von individuellen Strategien des Umgangs mit Überfluß und Knappheit, Ansprüchen und Übertragungen, Handel und Zirkulation, Reichtum und Armut – d.h. mit jenen ökonomischen Kriterien, deren Konfiguration den homo oeconomicus ausmacht. Es gibt also jenseits der ‚Experten’ und des professionellen Diskurses über die Ökonomie ein anderes literarisches Wissen vom Produzieren, Distribuieren und Konsumieren, einen Blick auf Wirtschafts-, Arbeits- und Geldverhältnisse, der – geschult in der Zirkulation der Zeichen – die kulturelle Erfahrungsperspektive ins Zentrum stellt.
Program
Freitag, 27. Januar 2006
14.30-16.30 Uhr
Kathrin Röggla: Lesung, anschl. Gespräch mit Falko Schmieder
Rainer Merkel: Lesung, anschl. Gespräch mit Daniel Weidner
17.00-19.00 Uhr
Dirk Kurbjuweit: Lesung, anschl. Gespräch mit Halina Hackert-Lemke
Moritz Rinke: Lesung, anschl. Gespräch mit Kai Bremer
20.00 Uhr
Podiumsdiskussion
„Literarische Kritik der ökonomischen Kultur“ mit Rainer Merkel, Moritz Rinke, Kathrin Röggla, moderiert von Dirk Kurbjuweit
Samstag, 28. Januar 2006
14.00 Uhr
Vortrag Joseph Vogl: „Poetik des ökonomischen Menschen“, moderiert von Karlheinz Barck
15.30-17.30 Uhr
Anne Weber: Lesung, anschl. Gespräch mit Anne-Kathrin Reulecke Georg Klein: Lesung, anschl. Gespräch mit Stefan Willer
18.00-19.00 Uhr
Ernst-Wilhelm Händler: Lesung, anschl. Gespräch mit Ulrike Vedder 20.00 Uhr Podiumsdiskussion „Zur Rückkehr der Arbeitswelt in die Gegenwartsliteratur“ mit Ernst-Wilhelm Händler, Georg Klein, Anne Weber, moderiert von Hubert Winkels
Gefördert durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin