Memorial und die Chancen der russischen Zivilgesellschaft
Program
Irina Scherbakowa (Moskau) und Mischa Gabowitsch (Potsdam) im Gespräch mit Franziska Thun-Hohenstein
Die Situation der regierungsunabhängigen gesellschaftlichen Organisationen hat sich in Russland in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Nach der Annahme des Gesetzes über die sogenannten »ausländischen Agenten« durch die Duma im Frühjahr 2012 verschärfte sich für viele die Lage dramatisch, darunter auch für die Menschenrechtsorganisation »Memorial«. Die 1988 auf Initiative von Andrej Sacharow gegründete älteste nichtstaatliche Organisation Russlands konstituierte sich als ein Netzwerk verschiedener regionaler gesellschaftlicher Bewegungen. Zu ihren zentralen Betätigungsfeldern gehören die historische Aufarbeitung der politischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion, die soziale Fürsorge für die Überlebenden des GULag sowie die Einhaltung der Menschenrechte in Russland. Eine Einstufung als »ausländische Agenten« öffnete die Möglichkeit für den pauschalen Vorwurf, vom westlichen Ausland finanziell abzuhängen und demzufolge antirussisch politisch tätig zu sein. Nach der russischen Annektierung der Krim erhöhte sich massiv der Druck auf die russische Gesellschaft, die Medien wurden zunehmend gleichgeschaltet und in den Dienst einer offiziösen patriotischen Propaganda gestellt. Welche Konsequenzen hat diese Situation für die russische Zivilgesellschaft? Welche Möglichkeiten bleiben den russischen NGOs?
Die Publizistin, Historikerin und Übersetzerin Irina Scherbakowa ist seit 2010 Honorary Member des ZfL. Sie ist Mitarbeiterin der Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung, Menschenrechte und Soziale Fürsorge MEMORIAL (Moskau) sowie Mitglied des Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, des Beirats der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin und Vorstandsmitglied der Marion-Dönhoff-Stiftung. Ihre Forschungsgebiete umfassen Oral History, Totalitarismus, Stalinismus, Gulag und sowjetische Speziallager auf deutschem Boden nach 1945, Fragen des kulturellen Gedächtnisses in Russland und der Erinnerungspolitik. 2014 erhielt sie den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg für Zeitgeschichte und Politik.
Publikationen: Gulag. Texte und Dokumente 1929–1956 (Mithg. Göttingen 2014), Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland (Göttingen 2010); »1917–1937–2007. Das Erbe des Stalinismus«, in: N. Schreiber (Hg.): Russland. Der Kaukasische Teufelskreis oder die lupenreine Demokratie (Klagenfurt 2008).
Der Soziologe und Historiker Mischa Gabowitsch arbeitet am Einstein Forum in Potsdam an einer kollektiven Biographie sowjetischer Kriegerdenkmäler. Nach dem Studium und Promotion in Oxford und Paris war er bis 2010 Dozent und Fellow in Princeton. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Protest und soziale Bewegungen in Russland, sowjetische Kriegerdenkmäler und Erinnerungsforschung. Zuletzt erschien von ihm Putin kaputt!? (Berlin 2013), eine sozialwissenschaftliche Studie zur russischen Protest- und Gegenwartskultur; 2005 gab er den Sammelband Kluften der Erinnerung. Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg (= Osteuropa 4-6/2005) heraus.
Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Herausgeberin der deutschen Werkausgabe von Warlam Schalamow (Berlin, seit 2007). Zuletzt erschien von ihr, gemeinsam mit Giorgi Maisuradze: Sonniges Georgen. Figuren des Nationalen im Sowjetimperium (Berlin 2015).
Siehe:
Memorial. Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge [Мемориал. Международное историко-просветительское, правозащитное и благотворительное общество]