Heinrich Heine und Sigmund Freud. Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft
Programm
Der "die Signatur aller Erscheinungen so leicht begreift..."
(Heine, Florentinische Nächte)
"In diesem Streit über die Würdigung des Traumes scheinen nun
die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie die Alten, wie das
abergläubische Volk und wie der Verfasser der Traumdeutung"
(Freud, Gradiva)
Im Jahr 2006 fallen der 150. Todestag Heinrich Heines (am 17. Februar)
und der 150. Geburtstag von Sigmund Freud (am 6. Mai) zusammen. Diese
biographische Koinzidenz ist Grund genug für das ZfL, um sie als
kulturgeschichtliche Konstellation zum Thema eines Symposiums zu machen:
der Tod des Dichters und Philosophen und die Geburt des Neurologen und
Erfinders der Psychoanalyse, untersucht als Schwellensituation, in der
sich das 'Ende der Kunstperiode' mit der Genese der ersten
Kulturwissenschaft berührt – einer Kulturwissenschaft, die Erfahrungen
des Imaginären ebenso wie der Säkularisierung in die Wissenschaft
aufgenommen hat.
Indem aber das Symposium nicht das Ende, sondern die Enden
der Literatur in den Blick nimmt, befragt es jene Modi der
literarischen Wahrnehmung und Darstellung, die in dieser Konstellation
hervortreten, (re-)aktiviert werden und nicht nur neue Schreibweisen in
der Literatur hervorbringen, sondern auch in andere Register Eingang
finden. Ihnen verdankt sich nicht zuletzt die Geburt der Psychoanalyse
und die Formulierung einer Kulturtheorie, die den Traum, das Gedächtnis
und die Sprache des Unbewußten ins Zentrum stellt. Mit diesem
Blickwechsel wird das ‚Ende' in eine Kippfigur verwandelt: Sie eröffnet
den Blick auf das kulturelle Gedächtnis und das Wissen der Literatur,
das von den um 1900 entstehenden Kulturwissenschaften beerbt wurde, auf
die Literatur als Traumdeutung und als Gedächtnis- und Kulturtheorie avant la lettre,
auf die Passage von der Sprache des Traums zu den Gesetzen der
Traumarbeit, von Heines metrischen und poetischen Witzen zu Freuds
Theorie des Witzes.
Der Zufall des Datums soll zum Anlass
genommen werden, um zu diskutieren, von welchen Daten sich beider Werk
herschreibt, um der Wahlverwandtschaft der Autoren über die Generationen
hinweg nachzugehen und die zahlreichen – expliziten wie verschwiegenen –
Korrespondenzen zwischen ihren Werken zu beleuchten: als jüdische
Intellektuelle in den Hauptstädten der Moderne und im Zeitalter der
Säkularisierung. Den bekanntesten Zutritt zum Schauplatz eines Dialogs
zwischen Heine und Freud bilden die vielen Heine-Zitate in Freuds Witz und seine Beziehung zum Unbewussten.
Doch wenn man von anderen Schriften, Begriffen und Bildern in Freuds
Arbeiten zurückblickt auf Heines Literatur, wird eine Fülle weiterer
Felder gemeinsamer Neugier, Faszination und Erkenntnisinteressen
erkennbar: für Träume, Trauma und Tabus; für Phantasien, Phantasmen und
Phantome; für Märchen und Mythen; für den Zusammenhang von Kult und
Kultur; für die Verwandlung von Schuld und Schulden; für Athen und
Jerusalem, die Archäologie Roms und das Paris des 19. Jahrhunderts; für
die Götter im Exil und die Geister der Kabbala.
Nicht nur lassen
sich mit Freuds analytischen Konzepten viele Motive und Szenarien in
Heines Literatur erstaunlich gut begreifen, als habe dessen
Betrachtungsweise jenen Blick auf die Dauerspuren der Kultur
antizipiert, aus dem heraus Freud seine Kulturtheorie gewonnen hat. Auch
hat der Dichter der Moderne dem Wissenschaftler des Unbewussten und des
Gedächtnisapparats manche Motive vorgegeben, nicht zuletzt die Figur
von 'Moses dem Ägypter'. Beide haben den eigenen Ort in der Moderne
bewusst gestaltet und sich symbolisch als Autoren ihres Jahrhunderts,
wenn nicht als ‚Jahrhundertautoren' verstanden: Heine, wenn er sich mit
dem auf 1800 verschobenen Geburtsdatum als "erster Mann des 19.
Jahrhunderts" vorstellt; Freud, wenn er das Erscheinen seiner Traumdeutung
auf 1900 vordatiert und auf diese Weise das neue Jahrhundert mit seiner
Theorie über die Gesetze des Traums eröffnet. Paris war für den einen
Hauptstadt einer Moderne zwischen Revolutionsemphase und Can
Can-Ekstase, für den anderen Lehrstätte für die Wissenschaft von der
Hysterie und Neuropathologie. Und beide haben – im Angesicht aktueller
politischer Krisen, Pogrome und Kriege – ihre Situation als jüdische
Intellektuelle neu reflektiert und die Bedeutung der Religionsgeschichte
für die Moderne untersucht.
Während Heines Schreibweise die
Grenzen der Dichtung überschreitet, wenn er bei seinen Reisen und
Flanerien durch die Schriften und Bilder, die Räume und Archive der
europäischen Kulturen die Spuren individueller und kollektiver Ängste
und Wünsche in der Weltgeschichte kommentiert, ist die Erfindung der
Psychoanalyse durch Freud umgekehrt nicht denkbar, wäre er nicht neben
der Neurologie auch bei Dichtung und Kunst als Experten der Sprache des
Unbewussten in die Lehre gegangen.
Donnerstag, 18.5.
17.00 Sigrid Weigel, ZfL: Eröffnung der Tagung
17.30 Klaus Heinrich, Berlin: Festhalten an Freud
19.00
Klaus Briegleb, Berlin: "Ich bin der Sohn der Revolution". Zu Heines Poetik der Affekte
Stéphane Mosès, Paris: "Selten habt Ihr mich verstanden" – Zur Funktion eines Heine-Zitats in Freuds "Traumdeutung"
Freitag, 19.5.
Panel I: Athen und Jerusalem – Lektüren der Tradition
10.00
Veronika Fuechtner, Dartmouth: Moses in Palästina: Heine, Freud, Zweig
Daniel Weidner, ZfL: "Notizenbuch des absoluten Geistes" und "entstellter Text". Heine, Freud und die Bibel des 19. Jahrhunderts
12.30 Sigrid Weigel, ZfL: Zwei jüdische Intellektuelle unter "schlecht getauften Christen"
Panel II: Ende der Kunstperiode
15.00
Marianne Schuller, Hamburg: Jenseits des Mythos. Zum Erzählen bei Heine und Freud
Eva Geulen, Bonn: Nachkommenschaften: Heine und das Ende der Kunstperiode
17.30
Esther Kilchmann, ZfL: Am Ort der Gespenster. Zu Heines literaturhistorischen Schriften
Anne-Kathrin Reulecke, Berlin: "Stimmen der Vorzeit". Einflussrede bei Freud und Heine
20.00 Abendveranstaltung
Georges Arthur Goldschmidt: Freud übersetzen
Samstag, 20.5.
Panel III: Der Witz und die Sprache des Unbewussten
10.00 Renate Schlesier (FU Berlin):
D’Éros et de la lutte contre l’Éros. Bretons AMOUR FOU
11.00 Manfred Schneider, Bochum: Der Zensor
12.30 André Michels, Luxemburg: Der jüdische Witz / Geist bei Heine und Freud
15.00
Stephan Braese, Berlin: "Famillionär" – Sprache und 'Bildung' in Freuds "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten" und Heines "Bäder von Lucca"
Susanne Lüdemann, ZfL: "Ganz wie seinesgleichen". Freud, Heine und Hirsch-Hyazinth
17.30
Uwe Wirth, ZfL: Polemik und Theorie der Dummheit bei Heine und Freud
20.00 Abendveranstaltung:
"Oh Freiheit! Du bist ein böser Traum." Stefan Hunstein liest eine Heine-Collage von Klaus Briegleb