Konjektur und Krux. Eine Tagung zur Methodik der Philologie am ZfL
Programm
"Kommt man bei einem Schriftsteller auf eine verdorbene Stelle", heißt
es bei Friedrich Schleiermacher, "und man hat dann nur eine Ausgabe, so
entsteht die Konjektur, also das divinatorische Verfahren". Nun ist das
divinatorische Verfahren nur eine Seite der philologischen Medaille: Auf
der anderen Seite steht das urkundliche Verfahren der "bestätigenden
Vergleichung". Die divinatorische Methode des Konjizierens geht auf
Sinn, sobald sie vom Teil aufs Ganze schließt. Die urkundliche Methode
der Komparation hebt dagegen auf das Partikulare ab, auf das, was
buchstäblich da ist - oder eben nicht. Schleiermacher spricht mit Blick
auf die "Abschätzung beider Methoden" von einem "hermeneutischen
Interesse", so dass der Schluss nahe liegt, es gebe so etwas wie eine Politik der Konjektur, die der Nukleus dessen ist, was man als philologische Kompetenz bezeichnen könnte. Die Politik der Konjektur
oszilliert zwischen dem Erraten eines größeren Sinnzusammenhangs
einerseits und dem Respekt vor den beobachtbaren Text-Tatsachen
andererseits.
Philologische Kompetenz besteht demnach darin,
aufgrund von Kenntnis und Können zu entscheiden, wann es angemessen ist,
vom urkundlichen auf das divinatorische Verfahren umzuschalten.
Insbesondere die Geschichte der neugermanistischen Edition lässt
allerdings vermuten, dass es fraglich ist, ob diese Entscheidungen
theoretisch fundiert sind. Die Tagung will daher die Frage nach der
konjekturalen Kompetenz als gemeinsame Schnittmenge von Editionspraxis
und -theorie in den Mittelpunkt stellen. Möglicherweise etabliert das
unbestimmte Verhältnis von urkundlicher und divinatorischer Methode eine
Zone des Übergangs, in der der Philologe auf seiner Suche noch gar
nicht eigentlich weiß, was er sucht, während er es unwissentlich bereits
weiß. Demnach wäre die 'philologische Methode' ein durch
Textbeobachtungen kontrolliertes Raten.
Indes impliziert die Politik der Konjektur
nicht nur ein Schwanken zwischen divinatorischem und urkundlichem
Verfahren, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, die Konjektur selbst
auszusparen, sich der Konjektur bewusst zu enthalten und die verdorbene Stelle als monumentale Leerstelle zu erhalten. An die Stelle einer Konjektur tritt die Krux.
Während die Konjektur eine tastende, mehr oder weniger riskante
Überschreitung der Grenze zwischen Nicht-Wissen und Wissen vornimmt,
markiert die Krux eine Grenze, durch die eine Zone des Noch-Nicht-Wissens ausgezeichnet wird. Mit anderen Worten: Die Krux
markiert ein ungelöstes Problem der Leerstellenergänzung, das zugleich
als zukünftiges Forschungsprojekt einen offenen Bezirk umgrenzt.
Freitag, 13. Juli 2007
14:00 Uhr Begrüßung
14:15 Uhr
Kai Bremer(ZfL), Uwe Wirth (Gießen): Konjektur und Krux. Theoretische und methodische Voraussetzungen
16:00 Uhr
Robert Stockhammer (ZfL): Konjektur und Korrektur. Zum Umgang mit Anomalien
16:45 Uhr
Ursula Kocher (Berlin): Crux und frühe Textkritik. Überlegungen zu Denkfiguren am Beginn der Editionswissenschaft
17:30 Uhr
Perspektiven. Diskussion moderiert von Almuth Grésillon (Paris)
Samstag, 14. Juli 2007
10:00 Uhr
Stephan Kammer (Frankfurt a. M.): Kühne Konjekturen. Hardouin, Bentley, Bodmer
10:45 Uhr
Daniel Weidner (ZfL): "den Text auseinander werfen" - das Comma Johanneum und die hartnäckigen Konjekturen im Neuen Testament
12:00 Uhr
Martin Schubert (Berlin): Das Kreuz mit der Krux. Altgermanistische Editionspraxis seit Lachmann
12:45 Uhr
Marcel Lepper (Marbach): Hierarchisierung, Enthierarchisierung. Zur Ebene der Konjektur, zur Ebene der Krux
15:00 Uhr
Stefan Willer (ZfL): Kreuzwege des Philologen - Über die Möglichkeit und Unmöglichkeit philologischer Experimenta crucis
15:45 Uhr
Irmgard Wirtz (Bern): Editorische Prozeduren um Kafkas Prozess
17:00 Uhr
Anne Bohnenkamp-Renken (Frankfurt a.M.): Bericht aus dem Archiv
17:45 Uhr
Abschlussdiskussion