ZfL INFO 25/2020: Neues ERC-Projekt: Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800 (Henning Trüper)
Neues ERC-Projekt: Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800 (Henning Trüper)
Henning Trüper, Neuzeithistoriker am ZfL, hat die Arbeit an seinem Forschungsprojekt Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800 aufgenommen. In den nächsten fünf Jahren wird es mit knapp zwei Millionen Euro durch einen von ihm eingeworbenen ERC Consolidator Grant gefördert. Das Projekt untersucht die Geschichte einer bestimmten moralischen Norm: des Imperativs der Seenotrettung. Die Forschungen sollen zu einem besseren Verständnis der Geschichte des Humanitarismus beitragen und neue Perspektiven auf die Geschichtlichkeit und kulturelle Gebundenheit moralischer Normen insgesamt entwickeln.
Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein wurde Schiffbrüchigen nur gelegenheitshalber geholfen. Seit 1823/24 entstanden in Großbritannien und den Niederlanden humanitäre Freiwilligenvereinigungen zur Rettung aus Seenot, die mit jeweils nationaler Reichweite Netzwerke von Rettungsbootstationen mit Freiwilligenmannschaften aufbauten. Bis um 1870 folgten in anderen Ländern insbesondere im nord- und westeuropäischen Raum ähnliche Organisationen. Einem überwiegend städtisch-bürgerlichen Milieu gelang es so innerhalb weniger Jahrzehnte, die Küstenbevölkerungen dazu zu bewegen, die universale Geltung eines neuartigen Imperativs anzuerkennen. In der Folge wurde die Rettung Schiffbrüchiger unter (fast) allen Umständen und nahezu ohne Rücksicht auf eigene Lebensgefahr verpflichtend.
Das Projekt geht der Frage nach, warum und wie dieser Imperativ entstand, wie er dauerhaft aufrechterhalten wurde und welche Konsequenzen er in Kultur und Gesellschaft zeitigte. Da weder technische Innovation noch ökonomischer Anreiz die neuen humanitären Bewegungen erklären, steht die Untersuchung der moralischen Kultur selbst in den Mittelpunkt. So soll ein historisches und theoretisches Verständnis der Entstehung humanitärer Normen aus bloßen Einzelanliegen (»single issues«) statt aus allgemeinen Prinzipien entwickelt werden. Dieses Verständnis hilft dabei, die Inkohärenz und Fragmentierung des historisch gewachsenen Humanitarismus und dessen Distanz zu alltäglichen moralischen Diskursen zu erklären.
2021 werden im Projekt vier Postdoktorand*innenstellen (mit Laufzeiten von 3 bzw. 4 Jahren) besetzt. Die Unterprojekte sollen (a) den Zusammenhang von Humanitarismus und Souveränitätskonzeptionen der Moderne klären und insbesondere die globalgeschichtlichen Dimensionen vertiefen, (b) die technikgeschichtlichen und materiellen Dimensionen der Seenotrettung und früher humanitärer Bewegungen erforschen, (c) die Ikonographie von Schiffbruch und Rettung sowie die Präsenz humanitärer Normen in ästhetischer Theorie und Praxis erfassen und (d) das Streben nach moralischer Allgemeinheit in humanitären Bewegungen des 19. Jahrhunderts und deren wechselseitige Beziehungen erforschen.
Henning Trüper war bis 2019 als Core Fellow am Helsinki Collegium for Advanced Studies tätig. Zuvor arbeitete er unter anderem am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, der École des hautes études en sciences sociales in Paris, dem Institute for Advanced Study in Princeton und der Technischen Universität Berlin. Seine Habilitation im Fach Geschichte der Neuzeit erfolgte 2018 an der Universität Zürich, die Habilitationsschrift erschien in diesem Jahr unter dem Titel Orientalism, Philology, and the Illegibility of the Modern World (London: Bloomsbury Academic, 2020).
Zur Projektwebseite:
- Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800 (englisch)
- Achipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800 (deutsch)
Abb. oben:
(1): Indonesischer Frachter »Tjokroaminoto« in Brand im Amsterdamer Hafen, 29.10.1964, Foto: Harry Pot / Anefo, Quelle: Wikimedia
(2): Illustration aus: Jules Verne: Les Naufragés du Jonathan (Paris: Hetzel 1909), S. 354, Quelle: Wikimedia