ZfL INFO 42/2022: Aktuelle Beiträge im ZfL BLOG
AKTUELLE BEITRÄGE IM ZfL BLOG
- Oliver Precht über Gegen-Welten und Ultra-Dinge (4.5.2022)
- Eva Axer stellt das neue ZfL-Jahresthema vor (26.4.2022)
- Dirk Naguschewski beobachtet afrikanisches Kino in Berlin (11.4.2022)
- Katrin Trüstedt berichtet vom Rande des NSU-Verfahrens (23.3.2022)
- Tobias Wilke über Hektor Haarkötters Kulturgeschichte des Notierens (10.3.2022)
Oliver Precht: GEGEN-WELTEN UND ULTRA-DINGE: DON QANON DE LA MANCHA
Gegenwelten, so eine sozialwissenschaftliche Definition, entstehen, wenn sich Teile der Gesellschaft von »etablierten Denk- und Verhaltensweisen« abwenden und »alternative Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten« entwickeln. Häufig verweist das Wort auf das viel diskutierte und schwer fassbare Phänomen des ›Postfaktischen‹. Zugleich legt die Rede von ›Gegenwelten‹ die Frage nahe, ob jene Teile der Gesellschaft tatsächlich nur »alternative Vorstellungen« entwickeln oder nicht vielmehr ›in ihrer eigenen Welt leben‹.
Die Pandemie hat uns einen neuen Zeitgenossen beschert – den ›Corona-Leugner‹. Wo etwas geleugnet wird, gibt es eine Wahrheit, die verdeckt, verfälscht oder verneint wird. Schon beim Begriff ›Klimawandel-Leugner‹ drängte sich die Einsicht auf, dass uns eine gemeinsame Welt abhanden gekommen ist, in der man auf der Grundlage allseits anerkannter Fakten verschiedene Meinungen haben und unterschiedliche Ansichten vertreten kann. Die Rede von Corona- und Klimawandel-Leugnern verweist auf die Existenz von Gegenwelten. Das Spektrum reicht von tendenziell paranoischer Wissenschaftsskepsis bis hin zur Negation anerkannter Tatsachen. Wie der Holocaust-Leugner, der den Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden in geschichtsrevisionistischer Absicht abstreitet, ruft der Begriff des Corona-Leugners nicht zuletzt auch moralische Entrüstung hervor. Sie macht sich breit, wenn man aus den Medien erfährt, dass die ›Corona-Leugner‹ bereits Ansätze zu einer ›Parallelgesellschaft‹ ausgebildet und Infrastrukturen des Alltags ohne G-Regeln mit eigenen Job- und Partnervermittlungen geschaffen hätten. Als Parallelgesellschaft, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abschottet, erscheint die Gegenwelt bedrohlich, weil dort Normen unterlaufen oder sogar ›Recht und Ordnung‹ außer Kraft gesetzt werden. Von den Ein- und Ausschlussmechanismen, die diese Begriffe nicht nur beschreiben, sondern ihrerseits auch verstärken können, profitieren besonders diejenigen, in deren Interesse eine gesellschaftliche Polarisierung liegt.
https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/04/26/eva-axer-zfl-jahresthema-2022-23-gegenwelten/
Am letzten Tag der Veranstaltungsreihe Kizobazoba! im Berliner Humboldt Forum kam sie dann endlich, die provozierend, leicht nervös vorgetragene Frage aus dem Publikum an die südafrikanische Kino-Aktivistin Sydelle Willow Smith, wie sie sich denn damit fühle, dass sie eine Partnerschaft mit dieser doch so umstrittenen Einrichtung eingehe. Angesichts der Kontroversen um den richtigen Umgang mit geraubten Kulturgütern und so … Die Antwort war so entspannt wie souverän. Wo, wenn nicht an Orten wie diesem, ließe sich der Dialog über die komplizierten Beziehungen zwischen dem ›Globalen Norden‹ und dem ›Globalen Süden‹ besser führen? In nuce steckte in dieser Auseinandersetzung jedoch auch das Dilemma, in dem sich das afrikanische Kino seit Anbeginn befindet. Die Kunstform Film, das Kino als soziale Institution sind existenziell auf nicht unerhebliche Finanzmittel angewiesen. Wo es an Geld mangelt, hat es das Kino schwer. ›Kizobazoba‹ stammt übrigens aus dem Lingala und bedeutet so viel wie ›Mach das Beste draus!‹.
Vor gut zehn Jahren rückte der NSU-Komplex ins Licht einer ahnungslosen Öffentlichkeit. Mit jedem neuen Detail der Mordserie, die bis zu diesem Punkt in den hinteren Mediensegmenten ein belangloses Dasein als ›Dönermorde‹ fristete, sandte eine Terrororganisation, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte und die Morde nun öffentlich für sich reklamierte, nachträglich Schockwellen ins öffentliche Bewusstsein. Als Antwort auf den Terror, der sich direkt vor ihren Augen und doch jenseits ihrer Aufmerksamkeit abgespielt hatte, eröffnete die Gesellschaft, vertreten durch die Bundesanwaltschaft, dann am 6. Mai 2013 einen Prozess. Den Strafprozess als jenes öffentliche Verfahren, das die Ausübung legaler Gerechtigkeit verspricht – Gerechtigkeit durch Prozess und Gesetz –, nennt die amerikanische Literaturtheoretikerin Shoshana Felman »die angemessenste und wesentlichste, letztlich bedeutsamste Antwort der Zivilisation auf die Gewalt, die sie verwundet«. Das Verfahren dieser Antwort verfolgt aber nun einen dezidiert eigenen Zweck, mit einem durchaus anderen Fokus als dem der gesellschaftlichen Aufarbeitung. Die Spannung zwischen dem innerrechtlichen Ziel einerseits – der Feststellung individueller Schuld – und dem gesellschaftlichen Bedarf an Aufarbeitung andererseits durchzieht den gesamten NSU-Prozess und prägt nicht zuletzt die Art, wie der gesamte NSU-Komplex dabei in Erscheinung und auf die Bühne der Welt tritt.
Tobias Wilke: VERZETTELTES DENKEN. Ein neues Buch zur Kulturtechnik des Notierens
Ganz am Ende von Hektor Haarkötters Kulturgeschichte des Notierens (Notizzettel: Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer, 2021) haben sich Autor und Verlag einen kleinen Spaß erlaubt. Zwischen Personenregister und hinterem Einbandspiegel stößt die Leserin auf zwei Leerseiten, überschrieben nur mit dem Vermerk »Raum für Ihre Notizen«. Ein Scherz im Angesicht dieser überaus umfangreichen Studie, die auf 590 Seiten materielle Praktiken des Notierens auf verschiedensten Trägermedien wie Zetteln und Notizbüchern, Hauswänden und Bodendielen, Statuen und Videobändern von der Antike bis ins 21. Jahrhundert verfolgt. Ein Scherz, keine Frage, und zugleich einer, der auf ein – mittlerweile überlebtes – Phänomen in der Geschichte von Druck und Buchproduktion rekurriert. Denn welcher Leser wäre nicht schon andernorts eben solchen Vakatseiten begegnet, so vor allem in kostengünstig hergestellten Büchern, die mithilfe der Rubrik »Raum für eigene Notizen« primär eins zu kaschieren suchen: dass der papierene Leerstand am Schluss das Resultat einer letztlich fehlgegangenen Satz- bzw. Druckbogenkalkulation darstellt. Es handelt sich um ein eigentlich überflüssiges Zuviel an Druckfläche, dem erst nachträglich eine (Ersatz-)Funktion zugewiesen wurde: in Gestalt eines Angebots an die Leserschaft, die unbeschriebenen Blätter nun doch, sofern gewünscht, selbsttätig von Hand zu füllen.
Der ZfL BLOG ist 2017 aus dem Arbeitskreis Bloggen in den Geisteswissenschaften am ZfL hervorgegangen. Die Rubrik AD HOC reagiert auf aktuelle Debatten; EINBLICK versammelt Beiträge aus laufenden Forschungsprojekten; LEKTÜREN liefern genau das; SAG MAL! präsentiert die Menschen, die hinter der Forschung stecken. Außerdem enthält der Blog Beiträge zu unseren JAHRESTHEMEN. Die Beiträge des Blogs, die in unregelmäßigen Abständen erscheinen (ca. 30 pro Jahr) stammen vor allem von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZfL, aber auch von Gästen und Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland. Die meisten der Beiträge sind auf Deutsch, einige auf Englisch verfasst.
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