ZfL INFO 85/2021: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
Marie Schröer: VON KATZEN UND MENSCHEN, FAKT UND FIKTION, UND BERLIN – ÜBER LEBEN VON MAKI SCHIMIZU
Einen neuen Comic kann man sich (wie eine neue Stadt auch) auf verschiedenen Wegen erschließen. Mitten rein in das Gewühl und sich treiben lassen oder aber aufmerksam die kleinen Fährten studieren, die das Werk selbst rahmen und verorten. Maki Shimizus 2021 publizierter, fast 400 Seiten starker Comic-Roman Über Leben bietet sich für beide Herangehensweisen hervorragend an. In der Hoffnung, dass möglichst viele Lesende die Immersionserfahrung der ersten Option im Anschluss an diese Lektüre noch erleben werden (Voraussetzung dafür sind der Comic in den Händen und die Bilder – im Plural! – vor Augen), wähle ich an dieser Stelle die zweite Option: Zu den sogenannten paratextuellen Hinweisen, mit denen sich ein Werk kontextualisieren lässt, gehören z. B. Interviews mit Autor*innen, Klappentexte, Untertitel, der Geschichte vorangestellte Mottos/Zitate und Widmungen. Werfen wir also in willkürlicher Reihenfolge einen Blick auf drei solcher paratextueller Indizien, um diese als Zugänge zum Comic im Allgemeinen und zu den in der Überschrift angekündigten Themen im Besonderen zu nutzen: a) die Danksagung, b) den Titel und Klappentext und c) die Widmung.
Irine Beridze: FLÜCHTIGE NACHBARSCHAFTEN IN DER OSTEUROPÄISCHEN MIGRATIONSPROSA
Die deutschsprachige Migrationsprosa aus Osteuropa ist häufig eng mit den urbanen Räumen von Großstädten verbunden. Das Leben der Protagonist*innen ist oft durch die Urbanität, Mobilität und Diversität einer postmigrantischen und globalisierten Weltordnung bestimmt. Der ständige physische oder imaginäre Orts- und Raumwechsel gibt den Figuren der transkulturellen Migrationsliteratur wenig Gelegenheit für das Ankommen in den jeweiligen soziokulturellen Kontexten. Autorinnen wie Sasha Marianna Salzmann und Olga Grjasnowa erzählen in ihren Texten von flüchtigen und vergänglichen Nachbarschaftsverhältnissen im Schutz der Großstadtanonymität, in der die Romanfiguren ihre transkulturellen und queeren Lebensformen praktizieren können. Die räumliche Verschiebung von der osteuropäischen Peripherie in das westeuropäische Zentrum erfolgt in der Spannung eines Paradigmas der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.
Eva Ruth Wemme: BEBEN
Am Montagmorgen öffnet Helene ihr Mailprogramm. Ein Frühlingsmorgen im neuen Büro im Kiezquartier. Sie sieht vom Schreibtisch aus dem Fenster, all diese Menschen hinter den dunklen Scheiben, auf den Gehwegen mit ihren Masken und angeleinten Hunden und Kapuzen und Handys sind irgendwie ihre Menschen. Sie wird ein offenes Ohr für sie alle haben und es wird gut sein.
Eine Mail von der Poststelle. Eine Mail von der Kollegin wegen des Patenschaftsprojekts. Eine Mail von der Koordinatorin wegen der Baumscheibenbepflanzung. Eine Mail vom Migrationsbeauftragten: Die rumänischen Roma im Haus an der Ecke Geranienstraße/Hohe Straße sind den Nachbarn zu laut, zu schmutzig und außerdem homophob, transphob, sexistisch, toxisch. Es gäbe Verständnis für die prekäre Lage der Roma, man wolle nicht antiziganistisch sein, aber trotzdem in Ruhe leben. Helene wird gebeten, sich vermittelnd einzubringen.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/10/22/beben/
Joshua Groß: NACHBARSCHAFTEN
Es fügt sich. Vielleicht fügt es sich auch überhaupt nicht. Ich weiß kein bisschen, wohin ich mich fügen soll. Ich kenne Nachbarschaften, aber ich kenne nicht die Nähe, die am Feuer entsteht, wenn sich die Meute dort versammelt. Ich weiß nicht, wo in den Zwischenräumen zwischen den Wohnungen das Feuer brennen soll, weil in den Zwischenräumen trotzdem noch Wandmaterialien festgebaut sind. Ich weiß nicht mal, wie ich die Zwischenräume von den Wandmaterialien unterscheiden würde. Ich will nicht sagen, dass beides dasselbe ist, aber doch: beides ist dasselbe. Ich sitze am Laptop und weiß nicht, wie ich meine Gedanken von den Daten unterscheiden würde, wobei ich beteuere, dass beides nicht dasselbe ist. In Emmanuel Van der Auweras Film The Sky is on Fire ist passenderweise alles auf Oberflächen reduziert, aber die Oberflächen verschmelzen beinahe, dabei gehen sie kaum ineinander über, sondern verpassen sich immerzu. Als wären es Schichten, die nicht geschichtet sind. Beim Schauen von The Sky is on Fire fühlt sich mein Hirn an wie ein Satz von Deleuze/Guattari: »Die von einem Substratum bereitgestellten Materialien sind natürlich einfacher als die Komponenten der Schicht, aber ihr Organisationsniveau im Substratum ist nicht niedriger als die Schicht selber.« Autos brechen beinahe in den hauchdünnen Boden ein, zerfleddert, verdellt; ein Auto als Substratum. Verglitchte Brunnen in verquollenen Parks; Brunnen als Substratum. Unauslöschliche Pixel in der Luft; Pixel als Substratum. Und der Erzähler, der Chaz heißt, spricht in einem eingeblendeten Periscope-Video davon, dass Technologie bislang nicht ins menschliche Bewusstsein eingesunken sei, während Wind in sein ungeschütztes Mikro streift. Er sagt, im Wissen um unsere Sterblichkeit würden wir boshaft werden. Er postuliert das Weiterexistieren einer Welt, in der es Menschen nicht ertragen können, nur einen mickrigen Ausschnitt der Geschichte zu erleben. Die Stadt, die dabei gezeigt wird, ist verlassen – eine digitale, zu heiß gebügelte Version von Miami; entstanden aus tausenden einzelnen Bildern, zusammengerendert, angenähert. Manchmal flackert es, aber vielleicht fügt es sich auch überhaupt nicht.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/09/30/nachbarschaften/
Troels Andersen: SCHREIBEN FÜRS LEBEN UND GEGEN DEN TOD
Eines Sonntags radle ich nach der Lektüre von Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur von Mitte nach Wedding, um das inoffizielle Denkmal des Autors zu besuchen. Nachdem er im Jahr 2010 erfahren hatte, dass er tödlich an Krebs erkrankt war, dokumentierte Herrndorf in Arbeit und Struktur sein Leben während der Chemotherapie mit großen emotionalen Schwankungen zwischen Lebensmüdigkeit und Hoffnung. Der ursprünglich nur für seine Freunde bestimmte Text erschien zunächst als Blog. Die Freunde aber waren von seiner literarischen Qualität überzeugt, sodass der Blog nach dem Tod des Autors als Buch erschien. Darin ist Herrndorfs Kampf um die Verteidigung des eigenen Lebens gegen die Krankheit nachzulesen; ein Kampf, der am 26.8.2013 endete.
Herrndorfs Entscheidung, sein Leben mit einer Pistole frühzeitig zu beenden, hat sein Schriftstellerkollege Rainald Goetz in dem ein Jahr nach Herrndorfs Tod erschienenen Aufsatz »Spekulativer Realismus« heftig verurteilt:
Je schwächer die Krankheit den Körper macht, umso härter wird das Ich von Herrndorf, kann sich so den Selbstrevisionen früherer Überzeugungen, die die Schwäche ihm ermöglichen könnte, nicht öffnen. Die »Waffe« und der zu ihr gehörige Kitsch blockieren das Hinsinken, ein Lernen, das möglich wäre bis zum Schluss. Ein Jahr vor seinem Tod erklärt er, dass er sich, auch wenn er jetzt »wie durch ein Wunder geheilt würde, dennoch erschießen würde.« Aha. Punkt. Warum? Nächster Satz: »Ich kann nicht zurück. Ich stehe schon zu lange hier.« Warum denn? Falsch! Geh doch weg von da und schmeiß die blöde Waffe weg. Aber wer sich eine »Waffe« besorgt, wird auch die Tat finden, die zu ihr gehört.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/09/24/schreiben-fuers-leben-und-gegen-den-tod/
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur