Nahaufnahme einer Meerwalnuss (Art der Rippenquallen) vor schwarzem Hintergrund.

Ästhetik des Post-Globalen

So unleugbar sich der aktuelle Weltzusammenhang als ein globaler beschreiben lässt, so sehr sieht sich das Paradigma des Globalen in seiner Logik der Vereinheitlichung und mit seinen politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen zunehmender Kritik ausgesetzt. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose befasst sich das Projekt mit den Möglichkeitsbedingungen einer ›post-globalen Ästhetik‹. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Globalität in zeitgenössischen Künsten kritisch hinterfragt werden kann und in welchem Maße insbesondere die spezifisch ästhetischen Parameter von Literatur, Film und bildender Kunst daran teilhaben. Dabei gilt das Interesse gerade solchen Formen künstlerischer Darstellung, die nicht länger dem Paradigma des Globus als einem Ganzen folgen, also der Denkfigur eines radikalen systemischen Integrationsprozesses, sondern Globalität als eine planetarische Relationalität imaginieren und hervorbringen. Diese Ästhetik des Post-Globalen – als Domäne der Differenz, der ökologischen Vielheit, Pluriversalität und heterogener Raum-Zeit-Beziehungen – entzieht sich dabei sowohl einem universalistisch-eurozentrischen, oft apolitischen Begriff von Menschheit als undifferenzierter Spezies als auch der meist regressiven, ins Nationale, Hetero-Patriarchale und Identitäre sich wendenden Logik eines lediglich anti-globalen Diskurses.

Neben dem Fokus auf künstlerische Werke versteht sich das Projekt als Beitrag zur Theoriebildung: Es verknüpft mit der Analyse spezifischer künstlerischer Positionen in ihrer formalästhetischen Eigenheit eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen und Theorieansätzen, die sich als ›post-globale Konstellationen‹ fassen lassen. Dazu gehören Begriffe wie Anthropozän und das Planetarische, ecocriticism und Environmental Humanities, jüngste Konzeptualisierungen etwa des Kosmopolitischen und der Weltliteratur, von Dekolonialität und ›Epistemologien des Südens‹ sowie eine differenziell und raumzeitlich expansiv gefasste Konzeption von Transkulturalität und Gegenwärtigkeit (contemporaneity).

 

Abb. oben: Meerwalnuss (mnemiopsis leidyi), Protagonistin von Marie Gamillschegs Roman Aufruhr der Meerestiere. Art der Rippenquallen, die sich einerseits durch menschlichen Einfluss (z.B. globale Frachtschifffahrtsrouten) invasiv in Gebieten ausbreitet, in denen sie zuvor nicht heimisch war, andererseits aber in ihrem Wesen als tentakuläre Meeresbewohnerin und simultane Hermaphroditin im Kontext des Romans auch als Trägerin eines speziellen Wissens über ökologische Relationalität, planetare Verwobenheit und nichtheteropatriarchale Genealogie verstanden werden kann. In diesem Sinne eine geradezu paradigmatisch post-globale Kreatur. © Petra Urbanek

2023–2024

Publikationen

Alexis Radisoglou

bereits erschienene Aufsätze zum Post-Globalen:

  • Anthropocene Realism: On Nikolaus Geyrhalter’s Erde and the Limits of a Cumulative Aesthetic, in: Austrian Studies 30 (2022), 47–62
  • Ethnoplanetarity as Postglobality: Four Theses and a Postscript on a Contemporary Decolonial Constellation, in: Gesine Müller, Benjamin Loy (Hg.): Postglobal Aesthetics: 21st Century Latin American Literatures and Cultures. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 29–44
  • Introduction: Figuring the Planet: Post-Global Perspectives on German Literature, in: The Germanic Review 97.2 (2022), Sonderheft: Figuring the Planet: Post-Global Perspectives on German Literature, hg. von Alexis Radisoglou und Christoph Schaub, 125–133 (mit Christoph Schaub)