Anästhesie und Literatur. Diskursive und literarische Zonen des Ausfalls in der Kognition, 1800–1900

Gegenstand des Projekts war die Beschreibung von Wissensproduktion über Kognition aus einer Perspektive, die den Konnex von Hirn- und Bewusstseinsforschung diskurskritisch hinterfragt: Das Wissen von Kognition, wie es vom 18. bis 20. Jahrhundert entsteht, wurde nicht in seinen Funktionsweisen, sondern gerade von seinem Nichtfunktionieren, d.h. von den Zonen des Ausfalls her, beschrieben und zwar sowohl als literarisches als auch als wissenschaftliches Ereignis. Methodische Prämisse war, dass jeder Diskurs seine Leerstellen mitproduziert. Das Projekt nahm die Frage nach Kognition damit von ihrer Kehrseite her auf, die in den Diskursen um Wahrnehmung und Erkennen miterzeugt wird, ohne darin thematisch zu werden. In der Analyse der konstitutiven Funktion jener diskursiven Kehrseiten für die Produktion des Wissens um Kognition und der damit bewirkten Verschiebung dieser Wissensformation liegt die spezifische Herangehensweise einer philologisch ausgerichteten Kulturwissenschaft.

Die Geschichte der Anästhesie wurde nicht – wie vielfach geschehen – als Geschichte der Analgesie oder der Erweiterung des Bewusstseins durch Drogenkonsum, sondern als Geschichte des Ausfalls von Bewusstsein perspektiviert. Ins Zentrum der Untersuchung rückte damit der Moment, in dem das Bewusstsein in Literatur und Wissenschaften künstlich ausgeschaltet, anästhesiert wird. Anästhesie ist in dieser Hinsicht diskursiver Bestandteil der Wissensgeschichte, und mehr noch: Als temporärer Verlust des Bewusstseins ist sie die Leerstelle der Kognition par excellence. In diesen anästhetischen Zonen wird ein spezifisches Wissen generiert, das nicht im wissenschaftlichen Zugriff auf Kognition artikuliert werden kann.
Eben dieses andere Wissen der Kognition wurde zum einen anhand literarischer Texte und den an ihnen beobachtbaren Betäubungstechniken, zum anderen anhand der Experimentalgeschichte der Anästhesie selbst analysiert.

Ziel des Projekts war es, anhand der Reflexion eines künstlich erzeugten Nullpunktes des Bewussteins in Medizin und Literatur, d.h. eines kognitiven degré zéro, die Genese eines theoretischen Begriffs von Anästhesie und damit der Kognition in Literatur und Wissenschaften nachzuzeichnen.

gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2006–2008
Leitung: Katrin Solhdju, Cornelia Wild

Teilprojekte

Anästhetische Erfahrung. Zwischenzeiten und Zwischenräume

Leitung: Katrin Solhdju

Dieser Projektteil befragt das Verhältnis von Anästhesie und Erfahrung mit einem Fokus auf die Zeit um 1900. Wenn bereits die erste, schmerzlindernde der vier anästhetischen Phasen mit einer zumindest teilweisen Amnesie einhergeht, wie ist es dann möglich, dass sich eine Philosophie der Erfahrung wie diejenige William James’ für das Phänomen der Anästhesie interessiert? Folgt man James, so zeichnet sich Erfahrung dadurch aus, dass sich etwas verändert und dass die Veränderung einfließt in die Konstruktion einer möglicht pluralen Realität. Neues wird immer dann möglich, wenn zuvor voneinander getrennte Dinge miteinander in Interaktion treten. Extremzustände wie die religiöse Ekstase oder der Rausch gelten James in dieser Hinsicht als besonders fruchtbar, da sie ungefilterte „reine“ Erfahrungen ermöglichen und so eingeübte, redundante Gewohnheiten in Frage stellen. Insofern also der anästhetische Ausfall von Kognition, der den Erfahrungsfluss unterbricht, Differenzen produziert und so neue Beziehungen stiftet, kommt auch ihm noch der Status einer Erfahrung zu. In diesem Sinne konstituieren anästhetische Erfahrungen Zwischenzeiten und Zwischenräume, in denen laut Alfred North Whitehead das Lebendige und damit auch das Neue lauern. In welchem Verhältnis solche prozessualen Philosophien des Dazwischen und der Relationen zu konkreten Erfahrungen der Grenzen von Kognition stehen, gilt es zu untersuchen.

Der schlafende Mensch. Narrationen und Techniken des Schlafes

Leitung: Cornelia Wild

Mit der Rede über den Schlaf beginnen sich zwischen 1800 und 1900 die Zonen des Ausfalls in der Kognition zu füllen. Als Verbund von Narrationen und Techniken entsteht ein Wissen vom Menschen, das diesen im Zustand "gänzlich zurückgesunkener Seelentätigkeit" zu beobachten, zu beschreiben und zu normieren sucht. Dabei kreuzen sich die Beobachtungen zum "natürlichen Schlaf" und "künstlichen Schlaf", der Narkose. Von Hufelands Lehrschrift Der Schlaf und das Schlafzimmer in Beziehung zur Gesundheit (1803), über pädagogische Ratgeber zur "Kunst richtig zu liegen", oder Claude Bernards Leçons sur les anésthesiques (1875) bis zu Schleichs Schmerzlose Operationen. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes (1884) zielen die Beobachtungen auf das Erfassen des europäischen Menschen in Zuständen, in denen "sämtliche Seelen und Geistesverrichtungen aufhören (...) in freier und bewusster Form ausgeübt zu werden." Das Teilprojekt konzentriert sich auf diese eigenartige Wissensproduktion, die ihren Ausgang am ausgefallenen, am "schlafenden" Bewusstsein nimmt. Denn in diesem Moment des Entzugs – so die Hypothese – wird der moderne Mensch am besten sichtbar und damit zum Objekt größter Kontrolle, an dessen Folgen wir in unserer biopolitischen Moderne noch zu tragen haben.