Archäologie der Moderne. Eine neue Sinneskultur im frühen 20. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert ist verschiedentlich als das Jahrhundert der Avantgarde(n) bezeichnet worden. Deren historischer Ort ist gleichwohl nach wie vor umstritten. Das Projekt antwortete auf eine Problemlage, die durch entgegengesetzte Forschungsstrategien gekennzeichnet ist: einerseits durch die Tendenz zur Kanonbildung, mit der Künstler der historischen Avantgarden im Ergebnis einer nachträglich konstruierten kunstimmanenten Kontinuitätsgeschichte zu Exponenten einer ›klassischen‹ Moderne gemacht werden, andererseits durch die Betonung des Bruchs der Avantgarden mit der sie umgebenden modernen Kultur. Die bisherige Forschung stützt sich dabei weitgehend auf die kulturutopische Programmatik, die Absichts- und Kriegserklärungen der verschiedenen ›Ismen‹ (Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus, Konstruktivismus). Demgegenüber konzentrierte sich das Projekt auf die avantgardistischen Praktiken, die Experimente mit Materialien, Techniken, Formen und Verfahren, die veränderte Sinnesstrukturen der modernen Umwelt zum Ausgangspunkt nehmen, um ihrerseits die Künste als Wahrnehmungsmedien der Moderne neu zu konfigurieren. Die Bedeutung der Avantgarden bestand im Entwerfen und Ausprobieren einer neuen Kultur der Sinne, in angestrebten und praktizierten ›Wahrnehmungsrevolutionen‹, die mit sozialen und politischen Bewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts interagierten, ohne in ihnen aufzugehen. Durch ihre enge Verschränkung mit wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen wurden die Künste im Europa dieser Zeit zu sensiblen Wahrnehmungsmedien der modernen Lebenswelt. Dabei verändert sich der Bezug zwischen Moderne und Avantgarde so, dass letztere zu einem Schlüssel für erstere wird: Die Avantgarden eröffnen einen Zugang zu einer komplex veränderten Wahrnehmungswelt, indem sie herkömmliche ästhetische Repräsentationsformen dekonstruieren und mit Ausdrucksmitteln experimentieren, die den neuen Sinnesstrukturen Rechnung tragen. Phänomene wie Primitivierung, Fragmentierung, Rhythmisierung, die von den ProjektmitarbeiterInnen gleich Sonden an die Formationen ästhetischer Erfahrung und künstlerischen Wissens angelegt wurden, stehen für eine von Wahrnehmungskonventionen befreite Elementarzerlegung und Neukomposition künstlerischen Materials.

Die ›archäologische‹ Methode des Projekts legte die künstlerischen Fundstücke frei und bezog sie auf eine Topographie der Fundorte, auf ein ausdifferenziertes Feld simultaner ästhetischer und epistemologischer Ereignisse in Ost-, West- und Mitteleuropa. Diese Aufmerksamkeit auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kultur- und Lebensformen setzt eine linear-fortschrittsgeschichtliche Narration von »Vor-«, »Hoch-« und »Postmoderne« außer Kraft. Metaerzählungen wie die von einer kohärenten abendländischen Zivilisationsgeschichte im Zentrum und unterentwickelten Kulturen an den Peripherien werden korrigiert: Die vermeintliche Vormoderne gehört – archäologisch gewendet – als ein ›Anderes‹ der Moderne dieser selbst an.

gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2001–2005
Bearbeitung: Justus Fetscher, Marianne Streisand

Veranstaltungen

Workshop
14.11.2003 – 15.11.2003 · 01.00 Uhr

Bild und Schrift im historischen und medialen Wandel

ZfL, Jägerstr. 10/11, 10117 Berlin, R. 06

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