Der Chor. Theorie-Theater-Texte von Heiner Müller bis René Pollesch
Mit der ›performativen Wende‹, die das Theater seit den 1960er Jahren erfasst hat, gelangt der Chor zurück auf die Bühne. Er wird inszeniert und rezipiert als ein Präsenz erzeugendes, pararituelles theatrales Instrument, das durch sein polyphones Sprechen und den Rhythmus seiner Stimmen und Bewegungen eine Verbindung zu den Zuschauern aufbaut und auf das hic et nunc der Aufführung referiert. Diese Performanzeffekte rücken im geschriebenen Text allerdings oft in den Hintergrund. Die Vielstimmigkeit und körperliche Präsenz des Chors sind im Theatertext nicht direkt darstellbar, sondern können höchstens für die Bühne ›in Rechnung gestellt‹ werden. Betrachtet man Dramen- und Theatertexte aber nicht nur als Gebrauchstexte im Dienste ihrer Inszenierung, sondern schreibt ihnen einen eigenen literarischen Wert zu, muss der Chorfigur in ihnen eine andere Funktion zukommen als die Hervorbringung theatraler Performanz.
Das Dissertationsprojekt untersuchte darum die Funktionen und Wirkweisen des Chors in deutschsprachigen Theatertexten seit den 1970er Jahren. Ausgangspunkt der Analyse war die Verortung des Chors in einer Zwischensphäre, in der er bereits in der griechischen Tragödie angesiedelt ist; er gehört weder ganz auf die Seite der Diegese noch ganz in die Reihen der Zuschauer; aus dieser Position erklärt sich sein vermittelnder Charakter; sie eröffnet aber auch einen Blick auf die dämonische Natur des Chors. Der Chor als rituelles Kollektiv stiftet einerseits Gemeinschaft in der Beschwörung des gemeinsamen Mythos – andererseits enttarnt er den Mythos als solchen, denn sein Sprechen kommt von einem Ort, der älter ist als der Mythos und der das metaphysische Weltbild, das der Mythos repräsentiert, sprengt: Der Chor spricht vom Ort der platonischen Chôra aus. Wie dieses Sprechen das Handeln der Protagonisten und die Handlung des Stücks in Szene setzt und wie daraus die Möglichkeit einer Wiederkehr des Tragischen resultiert, haben Analysen ausgewählter Theatertexte von Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Botho Strauß, Tankred Dorst, Ewald Palmetshofer, René Pollesch und anderen aufgezeigt.
Publikationen
Chor und Theorie
Zeitgenössische Theatertexte von Heiner Müller bis René Pollesch
Maria Kuberg
- Schauen und Rauschen. Zur Ästhetik des Chors und den drei Chören in Rainald Goetz’ Heiliger Krieg, in: Antonia Egel, Nicole Haitzinger (Hg.): Zwischen Apoll und Dionysos. Chöre im 20. Jahrhundert. Freiburg i.Br.: Rombach Wissenschaft 2022, 125–142
- Der Chor hebt ab’ – Zur Theorie des Chors in René Polleschs Theater, in: Paul Martin Langner, Joanna Gospodarczyk (Hg.): Zur Funktion und Bedeutung des Chores im zeitgenössischen Drama und Theater. Berlin u.a.: Peter Lang 2019, 13–26
- Chor und Krieg. Schillers Ästhetik in Elfriede Jelineks Ein Sportstück, in: Claude Haas, Michael Auer (Hg.): Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Stuttgart: Springer 2018, 287–300
- ›Noch sind wir ein Wort, doch reifen wir zur Tat.‹ Zur Performativität des Chors in Theatertexten von Müller, Dorst und Jelinek, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 2 (2015), 251–271
Veranstaltungen
Maria Kuberg: Rauschen/Schauen. Zu den drei Chören in Rainald Goetz’ »Heiliger Krieg«
Universität Salzburg, Erzabt-Klotz-Str. 1, 5020 Salzburg, Unipark Nonntal, Tanzstudio 2. Stock (Österreich)
Maria Kuberg: Kollektiv: Sprechen – handeln. Sprechakte des Chors in deutschsprachigen Theatertexten der Gegenwart
WWU Münster, Germanistisches Institut, Vom-Stein-Haus, Aula, Schlossplatz 34, Münster