Der mächtige Hasser: Martin Luthers Reformationen von Rhetorik und Affekt
Vor dem Hintergrund des geistesgeschichtlichen Topos von der Reformation als ›Geburtsstunde der Subjektivität‹ reflektiert das Buchprojekt The Mighty Hater: Martin Luther’s Reformations of Rhetoric and Affect das Verhältnis von Luthers aggressivsten Reden zu zeitgenössischen Theorien der hate speech. Was, wenn das paradigmatische Subjekt ein »Hasser« ist? Wie haben wir es mentalitätsgeschichtlich zu deuten, wenn in der Vergangenheit der aggressive »Lutherstil« immer wieder mit dem »deutschen Stil« in eins gesetzt wurde? Das Buch nähert sich Luthers aggressivsten Schriften mit dem Instrumentarium rhetorischer Analyse. Dabei geht die Untersuchung von zwei Grundannahmen aus:
- Kritik, die nicht die Lust am Text anerkennt, bleibt abstrakt und moralistisch; Komplizenschaft ist Voraussetzung effektiver Kritik – gerade, wenn ihr Gegenstand ein so problematischer wie hate speech ist. Um hate speech und ihre affektive Anziehungskraft verstehen zu können, müssen wir bei ihrer Sprache verweilen. Erst dann lässt sich diese Sprache gegen sich selbst wenden.
- Angesichts der eklatanten Zunahme von hate speech im letzten Jahrzehnt können wir es uns nicht leisten, Luthers rhetorische Manöver nicht zu verstehen: Noch in der Mobilisierung des ironischen »LOL«, das von der US-amerikanischen Alt-Right oft besonders aggressiven Bemerkungen angehängt wird, um deren verheerenden Inhalt mehrdeutig erscheinen zu lassen (und so zu einem gewissen Grad zurückzunehmen), lässt sich etwa ein Nachhall der von Luther oft bemühten Praeteritio vernehmen.
Neben dieser präsentistischen Perspektive widmete sich das Projekt dem historischen Kontext der Pamphlet Wars, im Rahmen derer viele von Luthers amüsantesten Polemiken erschienen (»Wider den Meuchler zu Dresden«, »Wider Hans Worst«), aber auch manche der verheerendsten (z.B. »Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern« oder »Von den Juden und ihren Lügen«). Anders als die gängige Debatte über die für die Epoche typischen Tropen suggeriert, wartet Luther gerade in seinen hasserfülltesten Schriften gegen Bauern, Juden, Sinti und Roma oder die katholische Kirche mit Figuren auf, die nicht mit dem stilus vehemens assoziiert werden – nämlich Analogie, Tautologie, Parrhesie, Praeteritio und Oikeiosis. Gemeinsam haben alle diese rhetorischen Figuren, dass ihnen im theologischen Diskurs metaphysische Würde zuteilwird. Diese Beobachtung erschüttert wiederum die gängige These, Luthers Rhetorikstudien (ebenso wie die von Melanchthon) seien als Abwendung von der Scholastik zu deuten. Im Hassen, so zeigt sich, reaktiviert Luther scholastische Reste, metaphysische Überbleibsel. Warum ist es gerade der Hass, der Luther auf diese scholastischen Figuren zurückgreifen lässt? Und was passiert mit ihrem theologischen Gehalt, wenn Transzendenz und Immanenz des Hassens derart aufeinanderprallen und der ehemals couragierte Mönch zum Hassprediger avanciert?
Abb. oben: Hans Finsler: Die Totenmaske Martin Luthers I (Ausschnitt), © Kulturstiftung Sachsen-Anhalt (CC-BY-NC-SA).
Publikationen
Barbara Nagel
bereits veröffentlichte Beiträge zur Rhetorik bei Luther:
- Lutherstil, in: Interjekte 14 (2022): Stil und Rhetorik. Ein prekäres Paar und seine Geschichten, hg. von Eva Geulen und Melanie Möller, 32–40
- Freidigkeit – Zur Protestantisierung der Parrhesie bei Luther, in: Rüdiger Campe, Malte Wessels (Hg.): Bella Parrhesia: Begriff und Figur. Studien zur Ästhetik und Politik der freien Rede in der Neuzeit. Freiburg: Rombach 2018, 63–83 (mit Daniel Hoffman-Schwartz)
- Analogie: Martin Lutero, in: Leonardo Piasere, Gianluca Solla (Hg.): I filosofi e gli zingari. Canterano: Aracne 2018, 39–46
- Tautologie (Martin Luther), in: Judith Kasper, Cornelia Wild (Hg.): Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale. München: Fink 2015, 56–60