›Total Strangers‹? Die Figur des Autisten in Wissenschaft und Literatur
Autismus – so nannte der Psychiater Eugen Bleuler 1910 ein Symptom der Schizophrenie. Seit den 1940er Jahren bezeichnet Autismus ein eigenständiges Syndrom bei Kindern. Sein Konnex zum Wahnsinn löste sich nur allmählich. Heute wird Autismus als ›Entwicklungsstörung‹ verstanden. Er ist Gegenstand intensiver Forschungen, nicht nur in der Psychiatrie, sondern etwa auch in den Neuro- und Biowissenschaften. In vielen Ländern ist Autismus ein Thema von öffentlichem Interesse und wird in der Tagespresse und in Online-Foren diskutiert. Personen mit Autismus gelten seit Kurzem als ideale Arbeitnehmer der IT-Branche; in Filmen und Romanen treten autistische Protagonisten auf.
Mit dem Autismus werden bis heute Entwürfe von Subjektivität, Kommunikation oder Empathie, Kindheit oder Familie verhandelt. Darstellungen des Autismus, der häufig als Störung des Zwischenmenschlichen schlechthin begriffen wird, werfen Licht auf historisch variable Verfasstheiten des ›Sozialen‹. Gerade durch ihre konstitutive Nicht-Greifbarkeit macht die Figur des Autisten oft sichtbar, was sie nicht ist – und steht damit im leeren Zentrum gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen.
Ziel des Projekts war eine Wissensgeschichte des Autismus. Anhand wissenschaftlicher, literarischer und populärer Quellen wurden verschiedene historische Konzeptionen des Autismus untersucht. Es wurde danach gefragt, welche epistemischen Effekte Repräsentationsverfahren in Texten, Filmen und Bildern sowie Wechselwirkungen unterschiedlicher Diskurse auf spezifische Autismus-Konzepte haben. Diese Konzepte wurden zudem in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext betrachtet – als Triebmittel wie Ausdruck bedeutender kultureller Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts.
Das Projekt wurde 2014–2015 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Forschungsverbundes Kulturen des Wahnsinns und 2011–2014 mit einem Stipendium des PhD-Net Das Wissen der Literatur gefördert.
Abb. oben: »For many decades, the autistic child has typically been represented as locked up within a shell« (Uta Frith, »Autism«, in: Scientific American 268, 1993, S. 108).
Publikationen
Novina Göhlsdorf
- »The Magical Device«: Temple Grandin’s Hug Machine, in: Monika Ankele, Benoît Majerus (Hg.): Material Cultures of Psychiatry. Bielefeld: Transcript 2020, 228–254
- Der seelenlose Cyborg. Wenn Philosophen hassen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.8.2019, 34
- Autismus. Diagnose der Gegenwart, in: Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie 182.2 (2019), 277–303
- Epidemie der Kindheit. Die Poetik der infantia in Silent History, in: Davide Giuriato, Philipp Hubmann, Mareike Schildmann (Hg.): Kindheit und Literatur. Konzepte – Poetik – Wissen. Freiburg i.Br.: Rombach 2018, 309–335
- Empathie, in: Falko Schmieder, Georg Töpfer (Hg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2018, 88–95
- Digital Curation in the Age of Semantic Technology, in: Kultur und Informatik. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2017, 193–208 (mit Jing He)
- Knowledge of Childhood: Materiality, Text, and the History of Science – an Interdisciplinary Round Table Discussion, in: The British Journal for the History of Science 50.1 (März 2017), 111–141 (mit Felix Rietmann, Mareike Schildmann, Caroline Arni, Daniel Thomas Cook, Davide Giuriato und Wangui Muigai)
- Wie man aufschreibt, was sich nicht zeigt. Autismus als Widerstand und Anreiz früher kinderpsychiatrischer Aufzeichnungen, in: Cornelius Bock, Armin Schäfer (Hg.): Das psychiatrische Aufschreibesystem. Paderborn: Wilhelm Fink 2015, 225–244
- Immer in Beziehung. Der Handschuh, in: Christine Kutschbach, Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015, 278–286
- Störung der Gemeinschaft, Grenzen der Erzählung. Die Figur des autistischen Kindes, in: Angelika Ebrecht-Laermann u.a. (Hg.): Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte, Bd. 68: Autistische und autistoide Störungen. Stuttgart/Bad Cannstatt : frommann-holzboog 2014, 17–34
- From a »Total Stranger« to the Superhuman of the 21st Century? The Autistic as Key Figure of Our Times, Atomium Culture (Dissemination European Research Project/Best Young Researchers)
- Von Wegen. Fernand Deligny und sein Leben mit Autisten, in: Dummy Magazin 30 (März 2011), 77–84 (mit Sascha Lehnartz)
- Narben tragen, in: Eugen Blume, Annemarie Hürlimann, Thomas Schnalke, Daniel Tyradellis (Hg.): Schmerz: Kunst + Wissenschaft. Köln: DuMont 2007, 233–240
Veranstaltungen
Novina Göhlsdorf: Von einer ›tiefgreifenden Störung‹ zur ›Superkraft‹? Autismus-Bilder im Wandel
Goldstein Galerie, Schweizer Str. 84, 60594 Frankfurt a.M.
Novina Göhlsdorf: Tiefgreifende Störung oder Existenzweise der Zukunft? Autismus zwischen Pathologisierung und Idealisierung
C.G. Jung-Institut Berlin, Hauptstr. 19, 10827 Berlin
Novina Göhlsdorf: Empathy: Between Human Nature and Self-Optimization
Centro Cultural Paco Urondo, Facultad de Filosofía y Letras - Universidad de Buenos Aires. 25 de mayo 201, Buenos Aires (Argentinien)
Novina Göhlsdorf: Autismus in Literatur und Film
Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz
Novina Göhlsdorf: The Magical Device. Temple Gardins »Umarmungsmaschine«
Medizinhistorisches Museum Hamburg, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Fritz Schumacher-Haus (Haus N30.b), Martinistr. 52, 20246 Hamburg
Novina Göhlsdorf: Autismus. Diagnose der Gegenwart
Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Hörsaal 1b der Rost- und Silberlaube