Die Wissenschaft vom Charakter. Menschliche Dinglichkeit und das Ende des viktorianischen Realismus
Das Projekt baute auf neueren Arbeiten der Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und posthumanistischen Theorie auf, um die langanhaltende Verknüpfung von literarischem Charakter und Subjektivität, Agency und dem Selbst zu hinterfragen. Durch die Lektüre wissenschaftlich beeinflusster Romane von George Eliot, Thomas Hardy, Olive Schreiner und anderer Autor*innen des Neuen Realismus der 1880er und 90er Jahre konstituiert Die Wissenschaft vom Charakter für die Welt des spätviktorianischen Romans ein Verständnis des Charakters als unpersönliches materielles Substrat, das sich von Subjekthaftigkeit unterscheidet. Nicht mehr eine besondere Eigenschaft des Menschen, wird ›Charakter‹ in diesen Werken zu einem Medium der Erforschung der Gemeinsamkeiten zwischen Menschen, nichtmenschlichen Tieren und Dingen.
In den einzelnen Teilen der Studie wird die Beziehung zwischen Literatur und wissenschaftlicher Erkenntnistheorie auf eine neue Weise erzählt. Dabei wird gezeigt, wie realistische Autoren narrative Formen nutzen, um neue Erkenntnisse über den Charakter und seine Funktionsweisen in Fiktion und Realität zu gewinnen. Im ersten Teil wird das Problem der Materialität des Charakters problematisiert; im zweiten das Problem der Handlungsfähigkeit bzw. die Frage inwieweit man seinen Charakter verändern kann; im dritten schließlich Fragen der Vererbung und der Entwicklung des Charakters über Generationen hinweg. Unter Berücksichtigung der deutschsprachigen wissenschaftlichen und philosophischen Quellen, die das Denken dieser Schriftsteller geprägt haben (Weismann, Helmholtz, Schopenhauer), und unter Einbeziehung der langen Geschichte des Charakters von der Antike bis zur Moderne (Theophrastus, Galton, Mill) erweitert Die Wissenschaft des Charakters so den Horizont der Forschungen zur viktorianischen Literatur und Wissenschaft über ihren langjährigen Fokus auf Biologen wie Darwin hinaus. Es war, wie sich zeigen lässt, vielmehr die Konvergenz der deutschen Naturphilosophie mit dem britischen Materialismus, die in der spätviktorianischen Zeit einen »Neuen Realismus« auf den Weg brachte: eine »Wissenschaft des Charakters« als Untersuchung der dynamischen materiellen Prozesse der Charakterbildung.