Russische Erinnerungsliteratur und die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts
Das Projekt war an einer Nahtstelle der Problemkreise ›Zivilisierung‹ und ›Gedächtnis‹ angesiedelt. Es hat sich die Aufgabe gestellt, das heuristische und kognitive Potential der Zivilisationstheorie und des Begriffs ›Zivilisationsbruch‹ am Beispiel der russischen Memoirenliteratur und Autobiographik sowie von Beicht- und Geständnistexten bzw. -praktiken des 20. Jahrhunderts zu erproben.
Die erste Arbeitsphase hat die Produktivität der Untersuchungsanordnung bestätigt: Relektüren der Erinnerungstexte können aus der heutigen Perspektive den Blick für die Darstellungsformen bzw. die Darstellbarkeit historischer Katastrophen schärfen und helfen, präzisere Fragen nach den Bedingungen katastrophischer Moderne-Verläufe zu stellen.
In einer Reihe von Einzelanalysen wurde das epistemologische Potential der Erinnerungsliteratur für ein vertieftes Verständnis der Wechselbeziehungen von Modernisierung und Gewalt ausgelotet sowie für eine Rekonzeptualisierung der (russischen) Moderne fruchtbar gemacht. Dabei traten, wie vermutet, die grundlegenden Ambivalenzen der Zivilisierung Rußlands hervor, einer Zivilisierung, die immer auch als äußere und innere Kolonialisierung betrieben wurde. Daher hat sich neben der chronologischen Perspektive eine topologische als wertvolle Ergänzung erwiesen, etwa um die ›Auslagerung‹ der Exilliteratur oder das spezifisch russische Phänomen einer ›Lagerzivilisation‹ zu beschreiben.
Das Projekt setzte sich dabei mit neuesten Forschungstendenzen auseinander, insbesondere mit dem Methodenwandel und der Gegenstandserweiterung, die sich in jüngster Zeit innerhalb der internationalen Stalinismusforschung abzeichnen. In neueren Arbeiten werden verstärkt Kulturpraktiken zur Konstituierung der ›Sowjetzivilisation‹ untersucht und dabei unterschiedliche Relationen zwischen traditionellen und ›sowjetischen‹ Mitteln sozialer Formierung herausgearbeitet (z.B. zwischen öffentlichen Beicht- und Bußpraktiken in der russischen Orthodoxie und Praktiken der Subjektkonstituierung im sowjetischen Kollektiv). Die von der Ästhetik des Proletkults und später des Sozialistischen Realismus bereitgestellten Verfahren zur permanenten Ablegung von Rechenschaft vor sich selbst, die mit altkirchenslavischen Beichtritualen und der zu erlernenden sowjetischen Rechtsauffassung gekoppelt wurden, lassen sich so kontrastiv zu den Versuchen lesen, die eigene Biographie jenseits dieser Selbstdisziplinierungspraktiken zu formulieren.
Mit der Untersuchung autobiographischer Schreibpraktiken vor dem Hintergrund bestimmter Techniken der Disziplinierung bzw. der Subjektformierung während der Sowjetepoche konnten die Figuren des Erinnerns bzw. Verschweigens wie auch die Strategien der Erinnerungsarbeit unter einem veränderten Blickwinkel beschrieben werden. Diese Vorgehensweise ermöglichte es zudem, eine projektbezogene Analyse der russischen Zivilisationsdiskurse zu leisten und dabei gleichzeitig deren identitätsstiftende Rhetorik zu dekonstruieren.
Publikationen
Exklusion
Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts
Sylvia Sasse
- »Zagraničnost« – Ausländigkeit. Die Erfindung des Auslands im Moskauer Konzeptualismus, W. St. Kissel, Sylvia Sasse, Franziska Thun Hohenstein (Hg.): Exklusion. Chronotopoi der Emigration in der russischen und polnischen Literatur. München: Otto Sagner 2006, 271–288
- Mnimyj zdorovyj. Teatroterapija Nikolaja Evreinova v kontekste teatralnogo ėstetika vozdejstvija [Der eingebildete Gesunde. Die Theatertherapie Nikolaj Evreinovs im Kontext theatraler Wirkungsästhetik], in: Riccardo Nicolosi, Aleksandr Bogdanov (Hg.): Medicina i russkaja lieratura. Ėstetika Ėtika, Telo. Moskva: Novoe izdatel’stvo 2006, 209–219
- Moralische Infektion. Lev Tolstojs Theorie der Ansteckung und die Symptome der Leser, in: Mirjam Schaub, Nicola Suthor (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München: Fink 2005, 275–29
Franziska Thun-Hohenstein
- Chronotopoi der Lagerzivilisation. Evgenija Ginzburg, Varlam Šalamov, Abram Terc, in: W. St. Kissel, Sylvia Sasse, Franziska Thun Hohenstein (Hg.): Exklusion. Chronotopoi der Emigration in der russischen und polnischen Literatur. München: Otto Sagner 2006, 181–200
- Bleistift und Schreibmaschine. Schreibszenen in der russischen Lagerliteratur, in: Davide Giuriato (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München: Fink 2005, 279–296
- »Moskau – Drittes Rom«. Nachklänge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts, in: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. München 2006, 79–97
- Thesaurus oder tabula rasa. Zur europäischen Rezeption eines russischen Kulturstreits von 1920, in: Trajekte 7 (2003), 45–47
- Auktoriale Beschwörungsformeln. Dmitrij Merežkovskijs Ewige Gefährten, in: K. Städtke, R. Kray (Hg.): Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin: Akademie-Verlag 2003, 109–131
- Ich-Konstruktionen und verordnete Identitätsmuster. Selbstbilder russischer Schriftsteller in der Sowjetunion der 1930er Jahre, in: Ch. Ebert (Hg.): Individualitätskonzepte in der russischen Kultur. Berlin: Spitz 2002, 97–111
Veranstaltungen
- Organisation des Workshops »Beichte und Autobiografie« am Zentrum für Literaturforschung in Berlin am 8.10.2003
- Mitorganisation und Konzeption des Festivals: »Kunst und Verbrechen: Art without Crime« vom 31.10.–2.11.2003 im Hebbel am Ufer (Berlin), eine Zusammenarbeit von DPK, Hebbel am Ufer, Bundeszentrale für politische Bildung und den Russischen Kulturtagen