Hannah Arendt, Friedrich Heinrich Jacobi und die Grenzen von Kunst unter postkolonialen Bedingungen

Die Verbindung zwischen dem Philosophen F. H. Jacobi und der politischen Theoretikerin Hannah Arendt mag auf den ersten Blick überraschen. Im Kern des Denkens beider liegt aber die Trias Person, Beginn und Handlung. Das Projekt hat mit Jacobi und Arendt eine Perspektive auf die Transformationen des Strebens nach Autonomie in der westlichen Kulturgeschichte herausgearbeitet, die Autonomie der Kunst in einen größeren Zusammenhang stellte und die aktuelle Debatte um die Grenzen von Kunst unter postkolonialen Bedingungen erkenntnistheoretisch beleuchtete.

Jacobi bestreitet das philosophische Primat des Bewusstseins und kritisiert damit sowohl den Rationalismus seiner Zeit als auch Skeptizismus und Empirismus. Sein Realismus in David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (1787) lässt sich auf das Primat personaler Handlung als eines Beginns und damit einhergehend auf die Gleichursprünglichkeit von Ich und Du zurückführen. Diese Gleichursprünglichkeit bedingt die Unvereinbarkeit seines Denkens mit dem nachkantischen Subjekt, zu dessen Genese er nichtsdestotrotz entscheidend beigetragen hat. Aus dem Ansatz einer »Unphilosophie« hervorgehend, für die menschliche Pluralität nicht aus einer Idee resultiert, sondern ursprünglich ist, setzt sein Denken der Philosophie eine Grenze.

Das Projekt brachte Jacobi mit Arendts Kritik am endlosen Dienst des Lebens in Vita activa in Zusammenhang. Die Wandlungen des Hervortretens menschlicher Bedingtheit, Natalität und Sterblichkeit, in einer Reihe von Tunsformen, die Arendt in Vita activa (1958) beschreibt, wurden als Reihe autonomer Umgänge mit der Un-Endlichkeit betrachtet und die allmähliche Umsiedlung der Pluralität von einer Eingangs- zu einer Endposition beschrieben. Es wurde dargelegt, dass Arendts Kritik an der Weltlosigkeit die kulturellen Transformationen an keinem archimedischen Punkt misst, den sie im antiken Griechenland oder in Rom lokalisieren würde, sondern die Kehrseite des in dieser Geschichte in einer Reihe von aporetischen Formen fortbestehenden Autonomieanliegens philosophieextern als Erscheinungsraum adressiert.

Wenn Jacobi für die Realität und Arendt für den Erscheinungsraum die plurale Singularität interpersonalen Beginns in den Vordergrund stellen, so lässt sich dieser Zugang unter diversen kulturellen Bedingungen denken. Das Projekt hat die durch Jacobi und Arendt gewonnenen Perspektiven auf die westliche Kulturgeschichte der Autonomie heute, am Ende dieser Geschichte, und im Bereich der Kunst erörtert. Während der Begriff Kunst und das neuzeitliche Fortschrittsdenken, in dessen Rahmen er entstanden ist, aktuell vor allem für ihre kolonialen Verblendungen kritisiert werden, arbeitete das Vorhaben mit Arendt und Jacobi an den Denkkategorien dieser Kritik, analysierte sie und verschob damit die Perspektive auf sie: Postkoloniale Kritik wurde am Beispiel von Werken der französisch-algerischen Künstler*innen Nacera Belaza und Kader Attia als Fortbestehen des Anliegens von Autonomie diskutiert und der Frage des Erscheinungsraums bzw. der Realität gegenübergestellt. Das Projekt leistete somit auch einen Beitrag zur postkolonialen Debatte über die Grenzen der ›westlichen‹ Kunstauffassung und eröffnete aus dem Inneren der westlichen Denktradition einen Zugang zu den aktuellen Herausforderungen.

Feodor Lynen-Rückkehrstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung 2020–2021
Leitung: Marita Tatari

Publikationen

Marita Tatari

Veranstaltungen

Tagung
02.07.2021 – 03.07.2021

Arendts Kritik am »archimedischen Punkt« – Erscheinungsraum einer nicht gegebenen Welt

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage, Trajekteraum / Online via Zoom

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Vortrag
15.02.2020 · 10.00 Uhr

Marita Tatari: Womit beginnt künstlerische Handlung? – Zur Abfolge und Auflösung der Kunstformen

Kulturcampus Domäne Marienburg, Domänenstr., 31141 Hildesheim, Hohes Haus, R. 302 (Aula)

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