Kreativität und Berechnung: eine Geschichte des mathematischen Erhabenen

Kreativität und maschinelle Berechnung werden für gewöhnlich als Gegensätze verstanden, bestenfalls als einander ausschließende Alternativen im Kampf um die Aufmerksamkeit der Verbraucher*innen. So werden etwa Künstler*innen damit beauftragt, Interfaces zu verbessern, die zwischen computergestützter Technik und deren Benutzer*innen vermitteln (eine Arbeitsteilung, die viele Plots der Gegenwartsliteratur bestimmt). Sogenannte Large Language Models werden anhand des kreativen Outputs menschlicher Autor*innen »trainiert« (eine Form der Arbeitsteilung, die in den USA jüngst Sammelklagen zur Folge hatte). Studierende können durch Eingabe geeigneter Befehle in ChatGPT ›gute‹ Arbeiten generieren lassen, nicht aber den Funken Originalität, der die besten Aufsätze auszeichnet. KI kann auf Befehl Manuskripte schreiben und Grafiken produzieren, aber keine wahre Kunst erschaffen, wobei ›wahre Kunst‹ und ›origineller Aufsatz‹ plötzlich zu Kategorien werden, die eine rechtsverbindliche Definition verlangen.

Dieser diskursive Gegensatz von Kreativität auf der einen und maschineller Berechnung auf der anderen Seite ist eine Besonderheit unserer Gegenwart, dessen Logik aus einer historischen Perspektive analysiert werden muss. Aktuell bezeichnet der Begriff der Berechnung den Geltungsbereich von endlichen ausdrucksfähigen Regeln und Verhaltensweisen, die von Algorithmen bestimmt sind, von zählbaren Parametern und Binärcode. Kreativität wiederum ist Teil des implizit unendlichen Bereichs dessen, was die Grenzen des Berechenbaren übersteigt. Somit ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kreativität und Berechnung eine ebenso mathematische wie philosophische, und daran muss sich auch die historische Reflexion ausrichten.

Manche Aspekte der Unterscheidung zwischen Endlichem und Unendlichem sind über die Jahrhunderte hinweg relativ beständig geblieben; andere nicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die mathematischen Verfahren der Berechnung, Zählung und Konzeption des Unendlichen radikal verändert. Diese Veränderungen ermöglichten die Entwicklung der Computertechnologie im 20. Jahrhundert. Philosophische und mathematische Ansätze zur Frage endlicher kognitiver Grenzen – und zur vollendeten Struktur, die sie gezwungenermaßen übersteigen würde – haben sich in dieser Zeit wechselseitig beeinflusst. Mathematiker wie Bernhard Riemann und Kurt Goedel, die ihre Disziplin revolutionierten, haben vornehmlich an deutschen Universitäten studiert und somit in intellektuellen Kontexten, die von der Philosophie des deutschen Idealismus bestimmt waren. Dementsprechend nahmen sie auch ihre analytischen Methoden wahr: als ›Frucht‹ vorangegangener kreativer Synthesen. Für sie war die gestiegene Rechenleistung ein Nebenprodukt neuer Erkenntnisse über die grundlegende Einheit vormals disparater mathematischer Bereiche, was wiederum die Frage nach dem eigentlichen Gegenstandsbereich der Mathematik berührte.

Bis heute ist diese Art des Denkens über die Beziehung zwischen Kreativität und Berechnung in weiten Teilen der Mathematik präsent, selbst innerhalb der Berechenbarkeitstheorie. Doch in dem Maße, wie die Rechenleistung steigt und terminologisch kaum mehr von jenen Maschinen zu unterscheiden ist, die die Unmenge dieser ›mechanischen‹ Vorgänge ausführen, verschwindet die Kategorie der Kreativität aus der öffentlichen Diskussion um Kognition. Sie steht dort höchstens noch als Chiffre für Verlust oder Kompensation. Tropen wie das ›vollkommene Netzwerk‹, der ›Text-Tsunami‹ oder der ›digitale Ozean‹ scheinen von der impliziten Annahme auszugehen, dass unsere Rechenfähigkeit, oder zumindest unsere Möglichkeit, entsprechende Technologien zu erfinden, unsere Fähigkeit überstiegen hat, neue Bedeutungsrahmen zu schaffen, in die wir unsere Ergebnisse einbetten können. Bestehende Vorgeschichten des digitalen Paradigmas konzentrieren sich in der Regel auf die Frage, wie die gegenwärtige Perspektive in den computerisierten Paradigmen der Vergangenheit präfiguriert wurde. Einer solchen implizit teleologischen Perspektive wurde im Projekt durch die Analyse einer Reihe von Schnittpunkten zwischen Kreativität und Computertechnik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart entgegengewirkt, die die gegenwärtige Binarität von Digitalem und Analogem untergraben und uns dazu anhalten, die Frage nach der Bedeutung der Berechnung neu zu stellen.

2023–2024
Leitung: Sarah Pourciau

Veranstaltungen

Konferenz
29.05.2024 – 31.05.2024

Semiotic Machines: Artificial Text and the Praxis of Reading

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Eberhard-Lämmert-Saal, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin

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Vortrag
13.10.2023 · 16.00 Uhr

Sarah Pourciau: Riemann Space: Khora and Mathematical Concept Formation

Laboratoire de Linguistique Formelle, Université Paris Cité, 533 Place Paul Ricoeur, Paris 75013

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Vortrag
08.10.2023 · 10.00 Uhr

Sarah Pourciau: Infinity Mirrors

Montréal, Kanada

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