Organismus und Kultur. Begriffliche Grundlagen und Grenzen der Biologie

Der Begriff des Organismus ist seit Konstitution der Biologie als Wissenschaft vor gut 200 Jahren eines der zentralen Konzepte dieser Disziplin – und zugleich ein Begriff, der über die disziplinären Grenzen der Biologie hinausweist. Gegenwärtig erlebt er eine Konjunktur, die sich aus dem Ende der genzentrierten Paradigmen und dem korrespondierenden Aufstieg der Systembiologie und synthetischen Biologie ergibt. Die systemtheoretische Grundlage des Begriffs ermöglicht es, ein gleichzeitig komplexes und integriertes Bild der biologischen Gegenstände zu zeichnen, in das ebenso morphologische und physiologische wie genetische und epigenetische Perspektiven einfließen können.

In methodologischer Hinsicht markiert der Organismusbegriff den Anfang der Biologie, insofern die Auszeichnung eines Systems als ›Organismus‹ dieses von leblosen, anorganischen Körpern unterscheidet. Der Begriff hat mit dem Ausdruck und Phänomen ›Lebewesen‹ ein lebensweltlich scharf umrissenes außerwissenschaftliches Korrelat und kann auch zunächst rein deskriptiv zur Bezeichnung dieser konkret gegebenen Gegenstände verstanden werden. Anders als das opake ›Leben‹ verspricht der Begriff aber eine Erklärung, die auf die innere Struktur, die ›Organisation‹ der lebendigen Wesen abzielt. Der mit dem Konzept verbundene Erklärungsansatz weist dabei sowohl reduktionistische als auch holistische Momente auf: Die Lebendigkeit wird zwar ausgehend von den Teilen des Systems erklärt, es ist aber ihre Interaktion und die ganzheitliche Geschlossenheit ihrer Interdependenz, die dabei den eigentlichen Erklärungsgrund abgibt.

Ein für die Biologie paradigmatisches Konzept ist der Begriff auch insofern, als er ein typischer »abbildender Begriff« (Hassenstein 1954) ist, der mit den beobachteten Gegenständen fest verknüpft ist und dessen Präzision auf seiner festen Bindung an die unmittelbare Anschauung beruht. Die weite Verbreitung von grafischen Organismusmodellen in der Biologie belegt, dass es Bilder in mancher Hinsicht präziser als Texte vermögen, den Gegenstand darzustellen und zu erklären. Für Organismen gilt dies in drei ihrer zentralen Aspekte: die innere Gliederung, die Ganzheitlichkeit und Abgeschlossenheit nach außen sowie die Simultaneität der Interaktion ihrer Teile.

In dem Projekt wurden die zentrale Stellung und aktuelle Konjunktur des Organismusbegriffs in der Biologie sowie dessen außerbiologische Bezüge untersucht. Ausgangsbefund war dabei, dass der Begriff trotz seiner großen Strahlkraft in andere Bereiche, etwa in die Sprach- oder Sozialwissenschaften, den Status eines Kennworts der Biologie bis in die Gegenwart behalten hat. Es stellt sich also die Frage, warum ›Organismus‹ im Gegensatz zu den meisten anderen biologischen Grundbegriffen (wie ›Organisation‹, ›Umwelt‹, ›Entwicklung‹, ›Regulation‹ oder ›Evolution‹) nicht ein zwischen den Disziplinen wanderndes, sondern im Wesentlichen disziplinär verankertes Konzept ist.

Ausgehend von der klaren disziplinären Verortung des Organismusbegriffs wurden die Grenzen der Biologie in den Blick genommen. Es wurde untersucht, inwieweit die Geschlossenheit des biologischen Theoriegebäudes und ihre Zentrierung im Organismusbegriff die systematische Ausblendung solcher Lebensphänomene nach sich ziehen, die sich nicht aus der mit dem Organismusbegriff begründeten funktionalistischen Perspektive erschließen. Der Verdacht liegt nahe, dass gerade der methodische Ansatz der Biologie zu einer dieser Wissenschaft immanenten Abgrenzung von den Kultur- oder Humanwissenschaften führt. Denn in letzteren bilden funktionale Beurteilungen und Erklärungen im Hinblick auf den Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungswert nicht den durchgängigen und systematisch zentralen Ansatzpunkt. Die Reflexion auf die begrifflichen Grundlagen der Biologie diente damit auch der Klärung der Frage, ob die biologische Inanspruchnahme und funktionalistische Interpretation solcher humanwissenschaftlicher Kategorien wie ›Sprache‹, ›Geist‹ oder ›Kultur‹ zu einer Verschiebung, wenn nicht Auslöschung ihres traditionellen Bedeutungskerns führen würde. Untersucht wurde also, inwieweit nicht nur der begriffliche und methodische Anfang der Biologie, sondern auch deren Ende am Organismusbegriff festgemacht werden kann.

Programmförderung Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2012–2013
Leitung: Georg Toepfer

Publikationen

Georg Toepfer, Francesca Michelini (Hg.)

Organismus
Die Erklärung der Lebendigkeit

Lebenswissenschaften im Dialog Bd. 22
Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2016, 328 Seiten
ISBN 978-3-495-48747-1
Georg Toepfer

Evolution

Grundwissen Philosophie
RECLAM Taschenbuch, Stuttgart 2013, 140 Seiten
ISBN 978-3-15-020292-0

Veranstaltungen

Workshop
07.06.2013 – 08.06.2013

Transcultural Conceptual History Between Asia and Europe. Potentials, Problems, Research Fields

ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303

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Medienecho

12.12.2012
Was ist das, ein Organismus?

An der Berliner Humboldt-Universität debattierten Biologen und Philosophen über die Grundfragen. Der Computer wird auch hier zum Generalschlüssel der Bildung von Theorien. Tagungsbericht über die von Georg Toepfer gemeinsam mit Francesca Michelini organisierte Tagung  Organismus. Internationale Tagung zur Erklärung der Lebendigkeit (6.–8.12.2012), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.12.2012