»Formung ist Leben«. Organizismus und die ästhetische Moderne
Es heißt, die ästhetische Moderne habe die holistische Philosophie der Kunst durch eine fragmentarische Ästhetik ersetzt. Diese These, die den Werkbegriff als solchen anficht, ist von einigen der scharfsinnigsten Theoretiker*innen und Kritiker*innen auf beiden Seiten des Atlantiks vertreten worden (einschließlich Adorno, Peter Bürger sowie Rosalind Krauss) und gilt heute als Gemeinplatz. Die These der Fragmentarisierung heute zu überdenken, ist nicht nur durch das wiedererwachte Interesse am Zusammenhang der Dinge motiviert; denn sie wird auch durch die ästhetischen Reflexionen jener Komponisten, Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Filmemacher infrage gestellt, deren Werk sie eigentlich beschreiben soll. Dazu gehören Arnold Schönberg, Anton Webern, Ferruccio Busoni, Alexander Scriabin, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Raymond Duchamp-Villon, László Moholy-Nagy, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin, Robert Musil, Gertrude Stein, Ezra Pound und Sergei Eisenstein. Sie alle haben dem Kunstwerk eine organische Struktur zugeschrieben und dabei die Verbindung der Teile im Verhältnis zum Ganzen betont.
Das Projekt zielte auf eine Neuinterpretation der ästhetischen Moderne ab, indem die theoretischen Reflexionen ihrer Vertreter*innen auf die Entwicklungen der zeitgenössischen Lebenswissenschaften bezogen wurden. Dazu gehörten der Aufstieg der experimentellen Psychophysiologie, die verspätete Rezeption von Goethes Morphologie, der Darwinismus und andere reduktionistische Ansätze in der Biologie.
Da der Begriff des Lebens im frühen 20. Jahrhundert sich in unserer Analyse als radikal verschieden vom holistischen Organizismus des späten 18. Jahrhunderts erwies, ließ sich untersuchen, inwiefern dieser neue wissenschaftliche Diskurs die Theorie der ästhetischen Moderne bestimmt und reguliert hat; und umgekehrt, wie Änderungen in der Kunstwelt zu einer neuen Konzeptualisierung der biologischen Form und Formung geführt haben. Wir schlugen vor, dass die Wahl zwischen Fragmentierung und Holismus einen falschen Gegensatz voraussetzt, der auf eben denjenigen rationalistischen und idealistischen Annahmen beruht, die von der ästhetischen Theorie des frühen 20. Jahrhunderts problematisiert wurden. Unser Ziel war es, die von dieser Disjunktion ausgeschlossene Mitte neu zu entdecken: eine Beziehung der Teile zum Ganzen, die mehr Zusammenhang als ein bloßes Aggregat besitzt, aber dennoch dynamischer als ein geschlossenes System wirkt. So Klee: »Gut ist Formung. Schlecht ist Form; Form ist Ende ist Tod. Formung ist Bewegung ist Tat. Formung ist Leben.«
Abb. oben: Paul Klee, Zusammenhang und Früchte, 1927.
Publikationen
Ross Shields
- The Piecemeal Coherence of Kafka's Alchimistengasse Notebooks, in: Monatshefte 115.4 (2023), 529–552
- Aggregat, in: Eva Geulen, Claude Haas (Hg.): Formen des Ganzen. Göttingen: Wallstein 2022, 41–46
- Morphology and Music Theory: Variations on a Theme by Goethe, in: Eva Axer, Eva Geulen, Alexandra Heimes: Aus dem Leben der Form: Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2021, 203–233
- Zusammenhang (Nexus), in: Clark S. Muenzer, John H. Smith (Hg.): Goethe-Lexicon of Philosophical Concepts 1.1 (2021): Inaugural Installment. Pittsburgh: University Library System 2021, 121–140