Prophetische Politik im transatlantischen Transfer. Diskurse um Prophetie in der Weimarer Republik und in den USA der 1940er bis 1960er Jahre
Im Rahmen einer Reihe von Workshops wurde die Figur des Propheten in der Politischen Theorie des 20. Jahrhunderts diskutiert, die um 1900 im Grenzbereich von christlichen und jüdischen Diskursen auf vermehrte Aufmerksamkeit stößt, in der Weimarer Republik für eine andere, demokratische, aber nicht liberale Politik steht und mit dem Exil über den Atlantik wandert, wo sie bis heute eine wichtige Rolle im politischen Diskurs spielt.
1918 warnt Max Weber in Wissenschaft als Beruf vor den »Kathederpropheten«, die neue Heilslehren im Hörsaal verkünden. Ein Jahr später betrachtet Hermann Cohen die Propheten als die Begründer der modernen Geschichtsanschauung. Zugleich fordert Karl Jaspers eine »Prophetische Philosophie« als Erneuerung des Denkens. Gerade zu Anfang der Weimarer Republik treten nicht nur die »barfüßigen Propheten« (Ulrich Linse), Heilslehrer und Inflationsapostel auf, sondern Prophetie wird auch zu einem wichtigen Modell intellektueller Politik. Die Renaissance des Messianismus in der Weimarer Republik ist auch eine Renaissance des prophetischen Charismas, das dafür prädestiniert zu sein scheint, die prekär gewordene politische Autorität auszudrücken. Denn ob der Prophet als Revolutionär oder als Reformator auftritt, er verkörpert in diesen Diskursen radikale moralisch-politische wie epistemische Ansprüche jenseits der Legitimität der überlieferten politischen Institutionen.
Die Faszination der Prophetie hat dabei bereits eine längere Geschichte politischer und vor allem konfessioneller Verwerfungen. Bereits in der Diskussion über Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums (1900) war die Figur des prophetischen Lehrers und Verkündigers als religiöses, kulturelles und politisches Modell aufgerufen worden, und zwar sowohl vom hegemonialen protestantischen Diskurs wie auch von den Verteidigern der von Harnack als bloßen Legalismus abqualifizierten jüdischen Religion. Dabei vermischen sich die Diskurse auf vielfältige Weise: Wo Jesus seitens der Protestanten vor allem als moralischer Lehrer dargestellt wird, werden in jüdischen Diskursen die Propheten als stellvertretend Leidende figuriert. Weil der Prophet und die Propheten dabei immer an der Grenze von innerlichem Gewissen und politischer Aktion situiert werden, wird die Prophetie zum Austragungsort für eine synkretistische und zugleich höchst komplexe Auseinandersetzung von biblischer Tradition und aktueller Politik. Diese setzt sich in den Weimarer Jahren fort, etwa in der Debatte zwischen Hermann Cohen und Ernst Troeltsch über die Deutung der Prophetie, in der Auseinandersetzung mit der protestantischen Exegese und der dialektischen Theologie etwa bei Max Wiener oder in Martin Bubers Entwurf einer charismatischen Tradition in Königtum Gottes (1936). Dabei strahlen diese Auseinandersetzungen weit in die Öffentlichkeit aus und werden auch von zahlreichen literarischen Adaptionen prophetischen Sprechens begleitet.
Mit der Vertreibung der Juden aus Deutschland begeben sich viele dieser Diskurse auf Wanderschaft. Paul Tillich lehrt in den USA, Martin Buber wandert nach Israel aus, Abraham J. Heschel nimmt seine fertiggestellte Studie über die Propheten mit nach Amerika, wo The Prophets 1962 mit ausgesprochenem Erfolg erscheint. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine lineare Übertragung europäischer Ideen. Denn zum einen reagieren die Autoren auf die Erfahrung des Totalitarismus, zum anderen stoßen sie in Amerika auf einen ganz anders gearteten Diskurs der ›American Prophecy‹, der sowohl auf die angloamerikanische Tradition literarischer Politik von Milton über Blake und Shelley bis Whitman zurückgreift, als auch auf eine lange Praxis radikaler prophetischer Kritik etwa in der Amerikanischen Jeremiade oder auch in den verschiedenen sozialen Reformbewegungen. So wird etwa Heschel durch seine Arbeit am Jewish Theological Seminary in New York nicht nur zu einem der wichtigsten Vermittler europäischen Religionsdenkens in den amerikanischen Kontext. Bei ihm werden die politischen Implikationen der prophetischen Rhetorik auch ganz unmittelbar manifest. In den 60er Jahren arbeitet er mit der Bürgerrechtsbewegung und mit Martin Luther King zusammen und entwickelt wichtige Überlegungen zur freien Rede, aber auch zur Handlungsmacht der Unterdrückten, die auf die alten sozialen und politischen Implikationen der prophetischen Politik zurückgreifen.
Im Zeichen eines neu erwachten Interesses für den Zusammenhang von Politik und Religion sind die untersuchten Diskurse über eine prophetische Politik aktuell von hoher Relevanz. Denn sie stellen eine Alternative gegenüber der bis heute dominierenden Linie der mit Carl Schmitt gedachten ›Politischen Theologie‹ dar. Sie zeigen, dass religiöse Rhetorik nicht nur im Namen von Herrschaft und Ordnung, sondern auch von Recht und Widerstand mobilisiert werden kann, und dass dies nicht nur im Gestus dogmatischen Dekretierens geschehen muss, sondern auch den Charakter einer riskanten rhetorischen Performanz haben kann.
Das durch eine Anschubfinanzierung der DFG ermöglichte Projekt baute mit einer Reihe von Workshops ein transatlantisches Netzwerk zu diesem Thema auf. Ein erster Workshop in Berlin (Juni 2017) konzentrierte sich auf die Formen, in denen die prophetische Politik in der Weimarer Republik verhandelt wurde. Ein zweiter Workshop in New York (September 2017) folgte der Figur des Propheten in den amerikanischen Kontext, wo Prophetie demokratischer und praktischer zu werden scheint. Diskutiert wurde, wie sich die Figur des radikalen Propheten mit anderen Diskursen verbindet und von der politischen Rhetorik etwa der Bürgerrechtsreform aufgenommen wird.
Publikationen
Prophetic Politics
Nitzan Lebovic
- Introduction, in: Political Theology 21.1–2 (2020), Sonderheft Prophetic Politics, hg. von Nitzan Lebovic, Daniel Weidner, 1–8 (mit Daniel Weidner)
- The Jerusalem School: The Theopolitical Hour, in: New German Critique 35.3 (2008), 97–120
Daniel Weidner
- Smashing Words. Prophetic Words and Alternative Political Theologies, in: Dominik Finkelde, Rebekka Klein (Hg.): In Need of a Master: Politics, Theology, and Radical Democracy. Berlin, Boston: de Gruyter 2021, 271–284
- Introduction, in: Political Theology 21.1–2 (2020), Sonderheft Prophetic Politics, hg. von Nitzan Lebovic, Daniel Weidner, 1–8 (mit Nitzan Lebovic)
- Prophetic Criticism and the Rhetoric of Temporality: Paul Tillich’s Kairos Texts and Weimar Intellectual Politics, in: Political Theology 21.1–2 (2020), Sonderheft Prophetic Politics, hg. von Nitzan Lebovic, Daniel Weidner, 71–88
Siehe auch
- Daniel Weidner, Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. München: Wilhelm Fink 2013
- Daniel Weidner: The Political Theology of Ethical Monotheism, in: Randi Rashkover, Martin Kavka (Hg.): Judaism, Liberalism, and Political Theology. Bloomington: Indiana University Press 2013, 178–196
- Daniel Weidner: Speaking Boldly: The Prophetic in 20th Century Political Thought, Lehigh University, 17.4.2012 (Vortragsskript)
Veranstaltungen
Daniel Weidner: Prophetic Politics
Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Südliches Schloßrondell 23, 80638 München
Prophetic Politics as Alternative Political Theology. Pluralizing Horizons of Conceptualizing Religion and Politics
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303
The Power of the Future. Prophetic Politics between Political Crises and Civil Rights
Center for Jewish History New York, 15 West 16th Street, New York 10011 (USA)
Ethischer Idealismus oder charismatische Kulturkritik. Prophetische Politik in der Weimarer Republik
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303