Reflex und Kognition. Zur Konfiguration der Neurosciences

Mehr als 15 Jahre nach der Proklamation der sogenannten »Dekade des Gehirns« hat sich der Terminus neuroscience zwar weitestgehend etabliert, dennoch konnte die ›neue Wissenschaft‹ die an sie gerichteten Erkenntniserwartungen nur zum Teil erfüllen. Trotz der zu verzeichnenden Negativbilanz wird dem Gehirn weiterhin eine eminente Bedeutung für die Kontrolle vitaler und kognitiver Prozesse beigemessen. Dabei bleibt ein Aspekt allerdings oftmals unberücksichtig: die cerebrale Steuerung von Reflexen. Historisch gesehen fällt sie ebenso in den Gegenstandsbereich der neuroscience wie die Kognition.

Von dieser Beobachtung ausgehend widmete sich das Projekt der Geschichte der Reflexforschung als einem für die Konfiguration der Neurowissenschaft konstitutiven Gegenstandsbereich. Ein Blick auf die Konstellationen um 1800 zeigt, dass sich die experimentelle Erforschung des Gehirns, seine epistemische Objektwerdung in modernen Experimentalsystemen, wesentlich von der Peripherie aus, das heißt von der Erforschung des Anderen der Kognition, vollzog. Im Zuge der Experimentalisierung der Peripherie (so z.B. bei Haller) wurde ein Wissen produziert, das im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Hirnforschung einging. Die Etablierung moderner neurowissenschaftlicher Methoden tritt somit aus einer Konstellation hervor, die sich durch zwei Momente auszeichnet: zum einen durch die Aufhebung der zentralen Leitdifferenz von Zentrum und Peripherie, wie sie noch für die vertikal organisierte frühneuzeitliche Wissensordnung kennzeichnend ist; zum anderen durch die sukzessive Etablierung eines horizontalen Modells, in dem Transferprozesse möglich werden.

Im Rahmen desProjekts wurden jene Wissenspraktiken zwischen 1700 und 1800 rekonstruiert, die zur Unterscheidung von Peripherie und Zentrum beigetragen haben und in deren Zug das Gehirn sowie das periphere Nervensystem zu epistemischen Objekten avancierten. Gegenüber primär theorie- bzw. konzeptgeschichtlichen Ansätzen war das Projekt diskurs- und experimentalgeschichtlich angelegt. Der experimentalgeschichtliche Teil analysierte die Übertragung der peripheren Experimentaltechniken, durch die das Forschungsobjekt ›Gehirn‹ überhaupt erst seine Konturen erhielt. Im Vordergrund stand die Untersuchung der materialen Kultur: Welche Techniken der Sichtbarmachung gab es? Wie wurden Gehirn und Peripherie praktisch erforscht und repräsentiert? Welche Rolle spielte das anatomische Theater dabei als öffentlicher Schauplatz der Wissenschaft und mit welchen theatralischen Mitteln wurden epistemische Objekte dort in Szene gesetzt?

Daran schloss sich ein zweiter diskursgeschichtlicher Teil an, der literarische und wissenschaftliche Imaginationen des Gehirns untersuchte und zu Experimentalpraktiken in Beziehung setzte. Zahlreiche Texte befassten sich um 1800 mit der Erforschung des Gehirns, sie nahmen nicht selten auf konkrete Versuche Bezug. Welche kulturellen Muster kommen bei der Deutung dieser Versuche zum Tragen, an welche Kontexte lehnen sie sich an und inwiefern partizipieren sie z.B. am politischen Diskurs?

gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2005–2008
Leitung: Margarete Vöhringer, Yvonne Wübben

Publikationen

Margarete Vöhringer, Yvonne Wübben (Hg.)

Phantome im Labor
Die Verbreitung der Reflexe in Hirnforschung, Kunst und Technik

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte
Wiley-VCH Verlag GmbH & Co., Weinheim 2009
Margarete Vöhringer

Avantgarde und Psychotechnik
Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion

Wissenschaftsgeschichte
Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 277 Seiten
ISBN 978-3-8353-0177-1

Yvonne Wübben und Margarete Vöhringer

Yvonne Wübben

Margarete Vöhringer

Veranstaltungen

Internationale Tagung
21.02.2008 – 23.02.2008 · 01.00 Uhr

Phantome im Labor: Die Verbreitung der Reflexe in Hirnforschung, Kunst und Technik

ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308

Details

Medienecho

29.04.2008
Der Affe als Versuchstier der Neurowissenschaften

Artikel von Yvonne Wübben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.4.2008, 41