Archive der Natur
- Georg Toepfer: Archive der Natur
- Tatjana Petzer: Eisige Archive. Auftauen – Einfrieren – Sondieren – Konservieren
- Jörg Thomas Richter: Blauhäher im Naturkundemuseum. Ein Bummel mit Mark Twain und Mastodon
- Ina Heumann: Zeiträume. Topologien naturwissenschaftlicher Sammlungen
- Uta Kornmeier: Grafisches Wissen. Zur Auswahl der Abbildungen
- Andreas Bernard: Der Spender als Verdächtiger. Über die Auswahl und Präsentation der Kandidaten von Samenbanken
- Edna María Suárez Díaz: Moleküle als Dokumente für die Geschichte des Lebens
- Eyal Weizman: Osteobiografie. Ein Interview mit Clyde Snow
- Falko Schmieder: Urgeschichte der Nachmoderne. Zur Archäologie des Anthropozäns
- Falko Schmieder/Daniel Weidner: An den Rändern der Archive. Zur ZfL-Jahrestagung 2013
Excerpt
Archive, Bibliotheken und Museen sind mustergültige Stätten des kulturellen Gedächtnisses –Erinnerungsorte und Chronotopoi im konkret räumlichen Verständnis. Sie versammeln historisch-archäologische Zeugnisse und liefern so der Forschung immer neue materielle Anregungen. Zugleich dienen sie als Orte geschichtspolitischer Repräsentation, von den National- und Universalmuseen des 19. Jahrhunderts bis hin zu den technisch avancierten, digital erschlossenen und vernetzten Literaturarchiven und -museen der Gegenwart. Dass solche emphatischen Zeitorte vernachlässigt werden, unbesucht bleiben, schließlich ganz verfallen, kann man sich in unserer archivisch-museal geprägten Wissensgesellschaft kaum vorstellen. Für die Zukunft wird man es aber auch nicht völlig ausschließen dürfen. In der Science Fiction kennt man solche Vorstellungen seit H.G. Wells' The Time Machine (1895). Hier stößt der Zeitreisende bei seinen Erkundungen im Jahr 802.701 auf die Ruine eines natur- und kulturhistorischen Museums voller staubbedeckter Saurierskelette, verrosteter Maschinen und zerfallener Bücher. In der weit entfernten Zukunft ist dieser Ort nicht mehr Zeugnis hochentwickelter Bewahrungstechniken, sondern ein Monument des Vergessens. An die Stelle der musealen Praktiken des Sortierens und Abstaubens sind die biochemischen Vorgänge des Verrottens und Verrostens getreten: ein »unvermeidlicher Prozess der Verwesung« (inevitable process of decay), der sich »mit äußerster Gewissheit« (with extreme sureness) fortsetzt, wenngleich er durch das mittlerweile eingetretene »Aussterben von Bakterien und Pilzen« (extinction of bacteria and fungi) verlangsamt wird.
Wells verwendet das verwesende Museum als pessimistisches Sinnbild für den Übergang des menschlichen Archivs in die longue durée der evolutionären Tiefenzeit. Demgegenüber wird heute die Bezeichnung ›Archiv‹ mehr und mehr auf natürliche Vorgänge angewendet. Solche Archive der Natur werden im vorliegenden Heft der Trajekte erkundet. Dabei lassen sich prinzipiell zwei Perspektiven unterscheiden: Liest man den Ausdruck Archive der Natur als objektiven Genitiv, dann ist die Natur Gegenstand der Archivierung; liest man ihn als subjektiven Genitiv, dann wird die Natur selbst zur Instanz oder Institution archivalischer Überlieferung, Aufbewahrung und Erschließung.
Mit der letztgenannten Lesart des Naturarchivs als einer konzeptuellen Metapher befassen sich die ersten drei Beiträge des Hefts. Georg Toepfer verfolgt die Geschichte dieser Denkgewohnheit bis ins 18. Jahrhundert zurück und diskutiert ihre Tragweite für die generelle Unterscheidung von Natur und Kultur. Besonders verweist er auf die Funktion des Erdreichs, das neben kulturhistorischen Artefakten auch naturhistorische Überreste aufbewahrt und an dem sich darüber hinaus ganze Epochen der Erdgeschichte ablesen lassen. So erscheint die Bodenkunde als integrale geologisch-archäologische Archivwissenschaft (→ S. 3). Die beiden folgenden Beiträge stellen einzelne archivalische Akteure der Natur vor, wobei die Auffassung von der Natur als Archiv jeweils auf kulturelle Tätigkeiten zurückwirkt. Tatjana Petzer rekonstruiert die vielfältigen Aufbewahrungsfunktionen des Permafrost-Eises, die nicht nur die Erfinder des Tiefkühltruhe inspirierten, sondern auch die Propheten der »Kryostase«, des postmortalen Einfrierens zum Zweck späterer Wiederbelebung. (→ S. 8) Jörg Thomas Richter diskutiert anhand einer Erzählung von Mark Twain das Sammlungsverhalten einer Vogelart, des Blauhähers, von der aus die Musealisierung des Biologischen in naturkundlichen Sammlungen in unerwarteter Beleuchtung erscheint (→ S. 13).
Es sind also Archiv-Phänomene in der Natur, die kulturelle Praktiken der Archivierung von Natur – und somit die Archive der Natur im Sinne des objektiven Genitivs – zu erhellen vermögen. Mit solchen Praktiken befassen sich die weiteren Artikel. Ina Heumann erörtert die spezifische Zeiträumlichkeit von Naturkundemuseen und zeigt, wie das Begehren nach vollständiger taxonomischer Ordnung immer mit der tendenziell unordentlichen Fülle der im Museum archivierten Naturdinge ins Verhältnis zu setzen ist (→ S. 19). Anders gelagert ist die Problematik im Fall der von Andreas Bernard untersuchten Samenbanken, in denen neben Keimzellen auch persönliche Daten über deren Spender aufbewahrt werden. Was dieser Archivtätigkeit unausgesprochen zugrunde liegt, ist die Überzeugung von einer unmittelbaren Weitergabe persönlicher Eigenschaften durch biologische Reproduktion – auch wenn das zum ansonsten vertretenen Programm der DNA-Vererbung nicht recht passen will (→ S. 26).
Wie eng wiederum die Geschichte der klassisch-genetischen Vererbungstheorie mit einem archivalischen Verständnis von und Zugriff auf Natur zu tun hat, zeigt der Beitrag von Edna María Suárez Díaz: Das Konzept vom DNA-Molekül als Archiv der Geschichte des Lebens und die damit einhergehende Hoffnung auf die vollständige ›Lesbarkeit‹ des menschlichen Genoms beruht wissenschaftshistorisch auf den umfangreichen Datenerhebungen, die Serologen und Immunologen in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchführten (→ S. 32). Archivfunktionen des menschlichen Knochens wie auch des Erdbodens kommen in dem Interview zur Sprache, das Eyal Weizman mit dem forensischen Anthropologen Clyde Snow geführt hat. Wenn von Kriegsverbrechern verscharrte menschliche Überreste gerichtsmedizinisch untersucht werden, dann verwandeln sich die in ihnen archivierten Informationen über den Lebenslauf und das gewaltsame Sterben der Individuen zu Beweismitteln und finden so wiederum Eingang ins kulturhistorische Archiv der Völkerrechtsgeschichte (→ S. 39). Der Beitrag von Falko Schmieder führt schließlich zurück in erdgeschichtliche Dimensionen. Mit dem aktuell stark diskutieren Konzept des Anthropozäns steht einmal mehr der prekäre Stellenwert des Menschen im Archiv der Natur zur Debatte – zwischen der Deutung historischer Vorgänge als gleichsam geologischer Katastrophen einerseits und dem Klimawandel als dem schlechthin globalen Effekt kultureller Prozesse andererseits (→ S. 44).
Mit den Archiven der Natur betreten wir archivtheoretisches Neuland und liefern gleichzeitig den Hintergrund für weitere Forschungen, die wir im Archiv – und in den Archiven – der europäischen Kultur- und Wissensgeschichte betreiben. Die Jahrestagung des ZfL im November 2013, vorgestellt von Falko Schmieder und Daniel Weidner am Ende des Hefts, thematisiert das Eigenleben der Objekte an den Rändern der Archive (→ S. 49). Gefragt wird also nicht nur nach den kulturellen Techniken des Archivierens und den kulturellen Funktionen der Archive, sondern auch nach den materiellen Widerständen des zu Archivierenden. Gerade diese Widerstände gehören zur Natur des Archivs – desjenigen kulturellen Ortes also, der für die Literatur- und Kulturforschung nach wie vor ein bevorzugtes Biotop darstellt.
Stefan Willer