Interdisziplinäre Begriffsgeschichten
Interdisziplinäre Begriffsgeschichte. Zum historischen Index eines unabgegoltenen Programms (Ernst Müller/Falko Schmieder)
Aus dem Archiv
- Telescopage. Benjamin, Jauß, Lyotard und die Ästhetischen Grundbegriffe (Karlheinz Barck)
- Archiv. Ein Begriff zwischen Praxis und Theorie (Herbert Kopp-Oberstebrink/Anja Schipke)
- Dichte. Eine Untersuchung zu Diskursen der Stadt- und Raumwissenschaft (Petra Gehring)
- Tektonik. Architekturen der Malerei im Drama (Claude Haas)
- Grenze. Zur Wort- und Theoriegeschichte (Benjamin Bühler)
- Faktor. Stellvertreter des Kulturellen in Evolution, Genetik und Epigenetik (Vanessa Lux/Jörg Thomas Richter)
- Tier. Wege zu einer politischen Begriffsbildung (Yoav Kenny)
Bildessay
- Begriffsauflösung. Künstlerische Zugänge zu Walter Benjamin im Werk von Carlfriedrich Claus und Mark Lammert (Judith Elisabeth Weiss)
Excerpt
Auf dem Planeten Tlön sind die Wissenschaften etwas anders organisiert als bei uns. So zerfällt die Geometrie in die Unterdisziplinen »Seh-« und »Tastgeometrie« und basiert auf dem Konzept der Oberfläche (statt auf dem des Punktes). Grundlage der Arithmetik ist die undefinierte Zahl, weil man davon ausgeht, dass erst der Vorgang des Zählens »die Mengen verändert und sie aus undefinierten in definierte verwandelt«. Diese Beschreibung aus Jorge Luis Borges' Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius macht deutlich, dass es nur einer leichten Änderung der begrifflichen Grundlagen einer Wissenschaft bedarf, um sie ins Phantastische zu verschieben. Zugleich wird das metaphysisch anmutende Problem des Wesens von ›Grundbegriffen‹ überhaupt aufgeworfen, wobei man mit Borges sogleich ergänzen muss, dass die Metaphysik ihrerseits ein »Zweig der phantastischen Literatur« ist, jedenfalls auf Tlön. Dennoch lässt er keinen Zweifel daran, dass der Zugriff der Wissenschaften auf ihre Gegenstände entscheidend von den verwendeten Begriffswerkzeugen abhängt. In seiner planetarischen Fiktion gilt das umso mehr, da die Sprachen Tlöns überhaupt »keine Dingwörter« kennen und gerade deshalb in der Lage sind, durch Verb- und Adverbzusammensetzungen »ideale Gegenstände« in schier unbegrenzter Zahl hervorzubringen.
Auch in diesem Heft der Trajekte geht es nicht um Metaphysik, wenn nach den »begrifflichen Grundlagen des Wissens« gefragt wird, wie es Ernst Müller und Falko Schmieder gleich zu Beginn des ersten Beitrags formulieren. Vielmehr richtet sich das Interesse auf den historischen Prozess, in dem sich Begriffe als Wissensgrundlagen herausbilden, und auf die epistemische Produktivität, die im konkreten Gebrauch von Begriffen liegt. Erst in einer solchen Analyse der Verwendungsweisen, ihrer Traditionen und ihrer Umbrüche können überhaupt sinnvolle Unterscheidungen zwischen Wort und Begriff getroffen werden – so bereits Reinhart Koselleck in seiner Einleitung zum ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe, die 1972 als Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland zu erscheinen begannen. Für Koselleck war die »historische Empirie« diejenige Bezugsgröße, mit der sich »die meisten Wörter der gesellschaftlich-politischen Terminologie definitorisch von solchen Wörtern unterscheiden lassen, die wir hier ›Begriffe‹, geschichtliche Grundbegriffe nennen«. Ein Jahr zuvor hatte schon Joachim Ritter in der Einleitung zum ersten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie bemerkt, dass sich in den philosophischen »Leitbegriffen« das Problem des Bedeutungswandels in besonders komplexer Weise darstelle. Auch dieser lexikographische Programmtext unterläuft die scharfe Dichotomie von Wort und Begriff, indem er die grammatisch-logisch nicht vollauf befriedigende, aber pragmatisch handhabbare Kategorie des »Begriffswortes« vorschlägt.
Die aus dieser deutschsprachigen Tradition herrührende Begriffsgeschichtsschreibung ist in den letzten Jahren fast zu einem Exportschlager geworden (darauf hat Ernst Müller bereits im letzten Heft der Trajekte hingewiesen), wobei Begriff und Begriffsgeschichte auch im Englischen, Französischen oder Russischen oft als deutsche Fachwörter erhalten bleiben. Umgekehrt mag man sich fragen, was in anderen Sprachen dort stand, wo ein deutscher Übersetzer das Wort ›Begriff‹ einsetzt. In der deutschen Fassung der erwähnten Borges-Erzählung, übersetzt von Karl August Horst, ist zweimal vom ›Begriff‹ die Rede (der »Begriff der undefinierten Zahlen« und die »Verhältnisbegriffe« der Tlön-Arithmetik), wo im spanischen Originaltext zwei verschiedene Wörter, noción und concepto, stehen. Für das auf Tlön übliche concepto del universo setzt Horst hingegen »Weltanschauung«. So plausibel diese Wortwahl im Kontext der Passage ist, so auffällig ist es doch, dass concepto einmal mit ›Begriff‹ und einmal mit ›Anschauung‹ wiedergegeben wird, zwei Wörtern, die fast diametral entgegengesetzte Konnotationen haben – und zwar gerade im Kontext des Nachdenkens über Begriffe und Begrifflichkeit.
So ist für Friedrich Nietzsche das »grosse Columbarium der Begriffe«, an dem »ursprünglich […] die Sprache, in späteren Zeiten die Wissenschaft« baut, zugleich die »Begräbnisstätte der Anschauung« (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne). Im Prozess der Begriffsbildung wird also nicht nur etwas gewonnen, es geht auch etwas verloren. Immer wieder wird behauptet, dass dieser Verlust vor allem das Metaphorische betreffe, denn »wo die Metapher ausgelöscht wird, erhebt sich der metaphysische Begriff« (Paul Ricœur). Von solchen Überlegungen geht aber nicht die Anregung aus, nur mehr in gänzlich anschaulichen Metaphern zu sprechen und sich dem Bau der Begriffe zu verweigern. Vielmehr ergibt sich die Erkenntnis, dass der Begriff, nochmals mit Nietzsche, »doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und dass die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist«. Mit dieser Formel lenkt Nietzsche von der Geltung auf die Genese über. Der Wert der antimetaphysischen Begriffskritik liegt demnach nicht darin, die Unterscheidung von ›Begriff‹ und ›Anschauung‹ einfach durchzustreichen, sondern darin, beide Seiten der Unterscheidung genealogisch aufeinander zu beziehen.
Darin liegt nun auch das besondere Anliegen interdisziplinärer Begriffsgeschichten, wie sie in diesem Heft versammelt sind. Sie behandeln Begriffe vor und jenseits ihrer klaren terminologischen Fixierung, in ihren Übergängen zum Nicht- und Unbegrifflichen. Nicht von ungefähr liefert der letzte Beitrag einen Ausblick auf die künstlerische, insbesondere schriftbildliche ›Auflösbarkeit‹ von Begriffen (Judith Elisabeth Weiss). Die im engeren Sinne begriffsgeschichtlichen Einlassungen skizzieren Entwicklungen und Verschiebungen, die sich in den Zwischenräumen disziplinärer Logiken vollziehen, und richten somit das Augenmerk auf epistemische Übersetzungen, Registerwechsel und Entlehnungen. Jene Zwischenräume können sich an ganz unterschiedlichen Stellen öffnen: zwischen konkreter kultureller Praxis und weitausgreifender Kulturtheorie (Herbert Kopp-Oberstebrink/Anja Schipke zum ARCHIV) oder zwischen den Rede- und Denkgewohnheiten bestimmter Disziplinen (Petra Gehring über DICHTE in verschiedenen Raumwissenschaften, Claude Haas über TEKTONIK in verschiedenen Kunstwissenschaften). Dabei ist wichtig zu betonen, dass interdisziplinäre Begriffe nicht per se funktionierende Schaltstellen in der Vermittlung verschiedener Disziplinen sind, sondern auch Orte vehementer Auseinandersetzungen um disziplinäre Deutungshoheiten sein können. Besonders deutlich wird das bei solchen Begriffen, die die historisch immer wieder strittigen Grenzen zwischen Natur und Kultur thematisieren; dafür stehen in diesem Heft die Beiträge zum kulturellen FAKTOR (Vanessa Lux/Jörg Thomas Richter) und zum TIER (Yoav Kenny).
Angesichts solcher Streitfälle der Interdisziplinarität lohnt es sich umso mehr, dem Konzept der GRENZE besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen (Benjamin Bühler), und damit auch der Grenzziehung, die durch den Begriff der Interdisziplinarität selbst fortwährend markiert wird, auch (und vielleicht gerade) wenn ›transdisziplinäre‹ Wege über Fach- und selbst Diskursgrenzen hinweg gefunden werden sollen. Bei dieser Auseinandersetzung mit Topiken und Figurationen der Grenze zeigt sich besonders deutlich die Tendenz interdisziplinärer Begriffe, immerfort Interdisziplinarität als Problem zur Anschauung zu bringen. Die begriffsgeschichtliche Forschung, wie sie am ZfL betrieben wird, versteht sich in dieser Weise als Problem- und Problematisierungsgeschichte – in entschiedener Anknüpfung an die 2005 abgeschlossenen Ästhetischen Grundbegriffe, deren Herausgeber im Vorwort zum ersten Band mit Bezug auf Adorno darauf hinwiesen, dass Grundbegriffe »Denkmäler von Problemen« seien. Mit einer Momentaufnahme aus der Entstehungsphase dieses Projekts hebt Karlheinz Barck im vorliegenden Heft hervor, dass nicht nur die Begriffe, sondern auch die Praktiken, Institutionen und Räume ihrer Erforschung niemals unabhängig von ihrer Geschichte zu denken sind.
Stefan Willer