Jerusalemer Straße, Berlin Mitte
- Dirk Naguschewski: Jerusalemer Straße, 2014
- Esther Kilchmann: Rudi Dutschke und Axel Springer reisen nach Jerusalem, aber kommen nur bis Leipzig. Zur Lesbarkeit von Berliner Straßennamen
- Claude Haas: »Im Gegenwärtigen das Vergangene erleben«. Das Zeitungsviertel – begangen mit Franz Hessel
- Martin Treml: Bauten, Bücher und Gelehrte. Salman Schocken und sein Verlag
- Jerusalemer Straße, 1923
- BILDESSAY
Detlev Schöttker: Ansichtskarten als stadtgeschichtliche Quelle. Das Beispiel Hausvogteiplatz - Gertrud Lehnert: Konsumpaläste und Konfektionsindustrie
- Christina Pareigis: Spuren der Erinnerung in den Straßen von Berlins Mitte
- Frauke Fitzner: Kirche, Stadt, Musik. Zur Geschichte der Jerusalemkirche
- Herbert Kopp-Oberstebrink: Axel Springer, Jacob Taubes und die Studentenbewegung
- Halina Hackert: Mitten im Zentrum. Leipziger Straße trifft Springer-Haus
- Judith Elisabeth Weiss: »Balanceakt«. Gespräch mit Stephan Balkenhol
Excerpt
Pro domo: Dieses Heft der Trajekte steht in einem engen Verhältnis zum Ort des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung – seiner ganz konkreten, räumlichen Unterbringung im Mosse-Zentrum in Berlin-Mitte. Gleich ums Eck unseres Hauseingangs in der Schützenstraße 18 trifft man auf die Jerusalemer Straße. Diese Straße mit ihrem so assoziationsreichen Namen ist hier auf irritierende Weise einfach zu Ende. In keiner Richtung findet sie eine erkennbare Fortsetzung, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Damit wird sie zu einer Angelegenheit für den zweiten Blick, genauer gesagt für ein ganzes Spektrum nachfolgender Blicke.
Als kulturwissenschaftliches Forschungsinstitut haben wir uns des Rätsels Jerusalemer Straße angenommen. Pro domo – vor dem Haus, mit dem Rücken zur eigenen Haustür – haben sich unsere Autorinnen und Autoren auf die Suche gemacht und sind dabei auf vielfache Weise fündig geworden. Architektur und Stadtplanung, Verlags- und Zeitungswesen, Musik, Mode und Ökonomie: Sie alle tragen zur Kulturgeschichte dieser Straße bei, deren mehrfach veränderter Verlauf ein topographisches Abbild der historischen Brüche vor allem des 20. Jahrhunderts zu sein scheint. Es lohnt sich also, die Jerusalemer Straße abzuschreiten, vom Axel-Springer-Hochhaus bis hinauf zum Hausvogteiplatz, von der Gegenwart des Jahres 2014 – ins Bild gesetzt mit Fotografien von AMÉLIE LOSIER – bis zurück zum Bau der Jerusalemkirche im 15. Jahrhundert. DIRK NAGUSCHEWSKI unternimmt mit seinem Auftaktartikel einen ersten Spaziergang, der zugleich die Stellen markiert, an denen die weiteren Beiträge ansetzen. Mit diesem Heft schließen wir an eine andere Publikation an. Ausgehend vom damaligen ZfL-Domizil in der Jägerstraße entstand unter dem Titel Von der Jägerstraße zum Gendarmenmarkt (Gebrüder Mann Verlag, Berlin, 2007) eine Kulturgeschichte aus der Berliner Friedrichstadt. Dem seinerzeit von den Herausgebern Wolfgang Kreher und Ulrike Vedder formulierten Anspruch, der relativ »kurzen Geschichte einer Forschungsinstitution die lange Geschichte ihres Ortes hinzuzufügen«, sehen wir uns auch an unserem heutigen Standort verbunden.
Über solche unmittelbar lokalen Anknüpfungen hinaus beschäftigen sich Projekte des ZfL schon seit längerem mit dem Zusammenhang von Topographie und Kulturgeschichte. Entscheidend dafür ist die enge Verbindung von Raum und Gedächtnis, die schon die antike Mnemotechnik prägte und die den spatial und topographical turn der neueren Kulturwissenschaften mitbegründete. In unseren Forschungen richtet sich das Interesse auf die Vielzahl kultureller Semantiken, die sich in Raumordnungen niederschlagen, auf geographische, historische und imaginäre Mehrdeutigkeiten, auf Topographien pluraler Kulturen, um es mit dem (Buch-)Titel eines inzwischen abgeschlossenen ZfL-Projekts zu formulieren. Jenes Projekt hatte die »Verschiebung Europas nach Osten« zum Anlass genommen, nicht nur die Differenzen zwischen westlichen und östlichen Kultur- und Ordnungskonzepten zu untersuchen, sondern auch die Frage zu stellen, inwiefern Himmelsrichtungen selbst kulturelle Orientierungen vorgeben.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Jerusalemer Strasse als ein exemplarisch pluraler Gedächtnisort. Ihr Name verweist auf einen der wichtigsten östlichen Ursprungsorte ›abendländischer‹ Kultur und damit auf die kulturell so produktiven wie problematischen Unterscheidungen von Orient und Okzident, von Judentum, Christentum und Islam. Die Situierung der Straße in zwei verschiedenen Berliner Bezirken macht sie zum Schauplatz einer anderen Ost-West- Unterscheidung: der Teilung in zwei deutsche Staaten mit ihren besonderen Auswirkungen auf ein in zwei Teilstädte separiertes Berlin. Der geographische Verlauf der Straße wiederum kippt diese Ost-West-Trennung um neunzig Grad auf die Nord-Süd-Achse: In der Jerusalemer Straße liegt der Osten im Norden, der Westen im Süden.
Ein weiteres Pro domo: Wir freuen uns, mit diesem Heft den erfolgreichen Beginn der nächsten Förderphase des ZfL durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bekanntgeben zu können. Nach der überaus erfolgreichen Evaluierung durch eine unabhängige Gutachtergruppe hat das BMBF seine Projektförderung um weitere sechs Jahre verlängert. Für die Jahre 2014 bis 2019 fördert der Bund unser Forschungsprogramm zur »Europäischen Kultur- und Wissensgeschichte« mit insgesamt 12,4 Mio. €. Dieses Programm umfasst insgesamt elf neue Projekte, in denen promovierte und habilitierte Fachwissenschaftler arbeiten, sowie vier Promotionsstipendien. Aufgrund dieses Erfolgs stellt das Land Berlin weiterhin die Mittel zur Sicherung einer minimalen Grundausstattung bereit.
Hinzu kommen weitere neue Drittmittelprojekte: Das bereits begonnene Projekt Epistemische Rückseite instrumenteller Bilder ist Teil des an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelten Forschungsverbunds »Bild Wissen Gestaltung«. Im Mai 2014 startet das Projekt Sicherheit und Zukunft. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Security Studies, finanziert von der Gerda Henkel Stiftung, und im Juli 2014 wird Christina Pareigis, die langjährige Betreuerin des Susan-Taubes-Archivs, eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte intellektuelle Biographie dieser in Ungarn geborenen, amerikanischen jüdischen Schriftstellerin und Philosophin beginnen. Insgesamt arbeiten somit mehr als 40 wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm des ZfL.
Pro domo, zum Dritten: Das vorliegende Heft ist die letzte einsprachige Nummer der Trajekte. Ab der nächsten Ausgabe sollen die Artikel auf Deutsch und Englisch erscheinen. Damit unternehmen wir einen weiteren Schritt in Richtung auf jene Internationalisierung, durch die sich die Forschungen des ZfL in Zukunft noch mehr als bislang auszeichnen sollen. Im selben Zug vertiefen wir auch die methodisch-theoretische Reflexion über den Zusammenhang von Wissen und Sprache. Gleich zwei neue Projekte befassen sich seit Beginn dieses Jahres mit der Pluralität von Wissenschaftssprachen: Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften um 1800 und Übersetzungen im Wissenstransfer. Auch die künftige Zweisprachigkeit der Trajekte verstehen wir nicht als Argument dafür, dass sich alle kulturwissenschaftlichen Inhalte und Verfahren glatt und restlos ins globalized academic English transferieren lassen. Vielmehr starten wir ein neues Experiment unserer kulturwissenschaftlichen Arbeit selbst, die wir als Arbeit an den Übergängen praktizieren – den Übergängen zwischen Disziplinen, zwischen Wissenskulturen und, mehr denn je, zwischen Sprachen.
Stefan Willer