Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ed./eds.)
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Heft 12

Trajekte 12
Berlin 2006, 52 pages
  • Aus dem Archiv
    Aufzeichnungen über Martin Buber (Jorge Luis Borges)
    Konstruktion einer jüdischen Identität: Borges und Buber
    (Lisa Block de Behar)
  • Bildessay
    Carmen africana
    (Dirk Naguschewski)
  • Korrespondenzen
    "Ein grässlicher und schädlicher Trugschluss". Europäisierung und Orientalisierung Ägyptens als Wille und Vorstellung (Andreas Pflitsch)
  • Die "biblische Sprache" - Deutsche Sprachkultur von Juden in Europa (Stephan Braese)
  • Ist Europa westlich?
    (Yoko Tawada)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven (Daniel Weidner)
  • Reisen nach Čortopil'. Interview mit Jurij Andruchovyč (Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse)
  • Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel
  • Internationales Symposium
    HEINRICH HEINE und SIGMUND FREUD. Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Excerpt

Als Goethe sein Plädoyer für die WELTLITERATUR formulierte, tat er dies zu einer Zeit, als sich in der Kurzen Geschichte der deutschen Literatur (Schlaffer) eben erst eine sprachlich einheitliche Literatur gebildet hatte: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen." (Goethe, 31.1.1827). Offenbar war diese Beschleunigung so erfolgreich, dass Erich Auerbach einundeinviertel Jahrhundert später bereits eine weltweite Tendenz zur Standardisierung diagnostizieren musste. Seine Vision einer Fortsetzung dieser Tendenz bis hin zu "einer einzigen literarischen Kultur" mündet in der zwiespältigen Bewertung einer solchen Vollendung: "Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört." (1952) Da heute die von Auerbach beobachtete Vereinheitlichung unter dem Titel der GLOBALISIERUNG sehr viel weiter fortgeschritten ist, stellt sich die Frage nach dem gegenwärtigen Status der Weltliteratur: Wie weit ist die WELTLITERATUR heute bereits Wirklichkeit geworden und/oder als Gedanke zerstört?

Weltliteratur - Europäische Literatur - Globalisierung
Von der zunehmend homogenisierenden Tendenz wollte Auerbach nur die europäischen Kulturen ein Stück weit ausgenommen wissen, weil sie noch am ehesten "ihre Eigenständigkeit gegeneinander" bewahren könnten. Jedoch, die Bindestrichkonstruktion des "europäisch-amerikanischen" Musters, an dem sich die Standardisierung damals orientierte - jedenfalls aus Auerbachs Blickwinkel, der gerade in die USA übersiedelt war, nachdem er die Exiljahre während der Nazi-Zeit in Istanbul verbracht hatte -, ist angesichts der jüngsten Friktionen zwischen europäischer und US-amerikanischer Kultur nicht mehr im gleichen Maße gültig. Die Postcolonial Studies behelfen sich in ihrer Kritik an einer hegemonialen Norm globaler Entwicklungen denn auch lieber mit solch abstrakten Begriffen wie "the West", in denen historische Differenzen innerhalb der "westlichen Kultur" ausgeblendet sind. Insofern muss die Frage nach der gegenwärtigen Stellung der EUROPÄISCHEN LITERATUR UND KULTUR im Prozess der Globalisierung neu gestellt werden.
Dass die Begegnung mit anderen Kulturen, mit dem FREMDEN sich selten friedlicher Begegnungen verdankt, ist eine Erfahrung, die bereits in Goethes Beobachtungen zur Weltliteratur eine Rolle spielte. "Es ist schon einige Zeit von einer allgemeinen Weltliteratur die Rede, und zwar nicht mit Unrecht: denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinander gerüttelt, sodann wieder auf sich selbst zurückgeführt, hatten zu bemerken, dass sie manches Fremde gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden. Daraus entstand das Gefühl nachbarlicher Verhältnisse, und anstatt dass man sich bisher zugeschlossen hatte, kam der Geist nach und nach zu dem Verlangen, auch in den mehr oder weniger freien geistigen Handelsverkehr mit aufgenommen zu werden." (1830) Aus heutiger Perspektive ist allerdings einschränkend festzustellen, dass eine solche, gleichsam kosmopolitisch bildende Wirkung kriegerischer Ereignisse allenfalls jenen, zwischen gleich souveränen Staaten ausgetragenen Kriegen zugeschrieben werden konnte, die in der Epoche des Jus Publicum Europaeum stattfanden und von Carl Schmitt etwas euphemistisch als "gehegte Kriege" beschrieben worden sind.

Der Beitrag des Juden Heine zur europäischen Moderne
Der im napoleonisch besetzten Rheinland geborene Jude HEINRICH HEINE, dem der Code Napoleon die Bürgerrechte gebracht hatte und der sich nicht nur aus diesem Grunde einen "Sohn der Revolution" nannte, war sechzehnjährig nach Abzug der Franzosen zum "Preußen geworden". Als Heine die aus einem solchen Ort erworbenen "geistigen Bedürfnisse" in die deutsche Literatursprache eintrug, hat Goethe jedoch nicht vermocht, dies als Beitrag zu jenem Wagnis zu erkennen, das er selbst in der 'Verkündigung' einer "europäischen, ja einer allgemeinen Weltliteratur" sah (1828). Zu sehr war sein Blick durch "unsere" Perspektive verstellt, durch die Überzeugung nämlich, dass "uns Deutschen" für die Bildung einer allgemeinen Weltliteratur "eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist". Und tatsächlich musste sich Heine ja den Zutritt zu Goethes "freiem geistigen Handelsverkehr" erst durch Taufe erwerben, weshalb er den Taufzettel zu Recht als "Entréebillet für die europäische Kultur" bewertet hat. Doch gab es den Raum einer EUROPÄISCHEN KULTUR, in den man hätte eintreten können, überhaupt? Oder wurde eine solche Kultur - als moderne und damit als von Anfang an polyphone und plurale Kultur - nicht erst durch Autoren wie Heinrich Heine geschaffen? So jedenfalls hat es Hannah Arendt gesehen, die Heine das "einzige große Beispiel geglückter Assimilation" nannte, " das die gesamte Geschichte der Assimilation aufzuweisen hat." So habe Heine unzähligen jüdisch-hebräischen Worten dichterisches Heimatrecht in der deutschen Sprache geschaffen. Und Heine ergriff, so Arendt, "das Nächstliegende, das was dem Volke, so wie es nun einmal geworden war, auf dem Herzen und auf der Zunge lag, verlieh ihm den Glanz des gedichteten Wortes und stellte so auf dem Umwege der deutschen Sprache seine europäische Würde wieder her." (1944) Arendts Begriff von Assimilation - sie spricht von Amalgamierung - lässt also die Mehrheitskultur nicht unberührt, in Heines Fall die deutsche Sprache und Poesie. Erst indem diese den fremden Worten ein "dichterisches Heimatrecht" verschaffen, eröffnen sie der eigenen Kultur einen europäischen Horizont. Und mit der europäischen Dimension verbindet sich sogleich der Blick auf die kommunizierenden Röhren zwischen den europäischen Geschehnissen und jenen in anderen Territorien. So dass Heine, als er in Paris angekommen war, in seinen Korrespondenzen nach Deutschland als historisch und philosophisch geschulter Kosmopolit, der er war, zugleich seismographisch auch jene Spuren verzeichnete, die die Eruptionen der "orientalischen Frage" in den europäischen Ländern hinterließen: "Der Kanonendonner von Beirut findet sein Echo in der Brust aller Franzosen." (Paris, 3. Oktober 1840)
Heinrich Heine hat von sich selbst gesagt, dass mit ihm die moderne Literatur eröffnet worden sei. Während sich mit einem historischen und besonders mit einen wissenschaftsgeschichtlichen Begriff der 'Moderne' vielfach die Vorstellung einer Epoche der Klassifikationen, der Ausdifferenzierungen von Arten und Gattungen, von Diskursen und Disziplinen verbindet, speist sich die LITERARISCHE MODERNE eher aus Erfahrungen der Heterogenität. Insofern erübrigt sich das Plädoyer, das Bruno Latour jüngst mit seinem Buch Wir sind nie modern gewesen einer herrschenden Gleichsetzung von Moderne und Homogenität meinte entgegenzuhalten zu müssen, für Literatur- und Kulturwissenschaftler. Dieser andere Begriff der Moderne ist nicht das einzige, was Literatur und Kulturwissenschaft verbindet, wie beim Symposium HEINRICH HEINE UND SIGMUND FREUD. DIE ENDEN DER LITERATUR UND DIE ANFÄNGE DER KULTURWISSENSCHAFT erörtert werden soll, das im Mai in Berlin stattfindet. Das ZfL nimmt die Tatsache, dass vor 150 Jahren Sigmund Freud im selben Jahr das Licht der Welt erblickte, in dem Heinrich Heine starb, zum willkommenen Anlass, in dieser Koinzidenz mehr zu sehen als einen bloßen Zufall. - Im Zwischenfeld zwischen Literatur und den Wissenschaften, zwischen Faszination und Abwertung, findet sich dagegen die Figur des Dilettanten. Was aber passiert, wenn der DILETTANTISMUS ALS BERUF ausgeübt wird, so fragt eine Tagung, die im Juli in Kooperation mit dem MPI für Wissenschaftsgeschichte durchgeführt wird.

Europäische Kultur und die Vieldeutigkeit des Ostens
Einen solchen - friedlichen - Weg in die europäische Kultur, wie ihn Hannah Arendt in der Heineschen Haltung des 'als ob' entdeckte, hat die deutsche Geschichte nicht nur verkannt, sondern gründlich zerstört. Erneute Bemühungen um eine europäische Kultur, wie sie - nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der jüngsten Desillusionierung einer EU-Politik, die eine Europäisierung des europäischen Kontinents vor allem auf technologisch-politischem Wege erreichen wollte - heute verstärkt zu beobachten sind, stehen nun bereits unter dem Vorzeichen der Globalisierung. Sie werden in nicht geringem Maße als Versuch gedeutet, Europa gegenüber der Globalisierung zu verteidigen bzw. vor ihr zu retten. Dass man bei der für ein derartiges Unternehmen notwendigen Osterweiterung übersehen hatte, dass das EU-Europa vor allem aus der Tradition WESTEUROPAS geschaffen worden ist - aus der Kultur des Braudelschen Mittelmeerraums, im Geiste einer Moderne, die aus christlicher Säkularisierung erwachsen ist, aus latinischen Überlieferungen und dem Erbe der Westkirche - und dass die Kultur der OSTEUROPÄISCHEN Beitrittsländer mit diesem imaginären Europa nicht kompatibel ist, diese Tatsache hat die gegenwärtigen Stockungen in der europäischen Vereinigungspolitik hervorgerufen. Denn plötzlich sieht man sich mit vor- und post-nationalen, mit post-sozialistischen, pluralen Sprach- und Religionskulturen konfrontiert. So ist mit den Hindernissen auf dem Wege zur europäischen Verfassung plötzlich die Einsicht in die Notwendigkeit KULTURELLER EXPERTISEN gewachsen. Nicht zuletzt dadurch sind die Kulturwissenschaften europa-hoffähig geworden. Jedenfalls erhalten im Siebten Forschungsrahmenprogramm der EU (2007ff.) erstmals die Humanities eine eigenständige Position zugewiesen und fungieren nicht mehr nur als Hilfswissenschaften für anwendungsbezogene Themen wie 'Staatsbürger'-Fragen oder die Konservierung des 'kulturellen Erbes'.
Während Europäisierung lange Zeit mit Modernisierung gleichgesetzt wurde und in der Orientalismus-Debatte ein Phantombild des 'Westens' entstand, in dem dessen historische Konturen weitgehend verschwunden sind, entstammen die Beiträge dieses Heftes sämtlich solchen Vorhaben, die das Spannungsverhältnis zwischen Europäisierung und Globalisierung ausloten: sowohl in den Übersetzungen, Transformationen und Ungleichzeitigkeiten zwischen 'Europa' und anderen Kulturen als auch in der Europäischen Kultur selbst als Gefüge von Unterscheidungen. In diesem Sinne orientierte sich die Arbeit im Forschungsschwerpunkt I des ZfL zur Europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, als dieser im Jahre 2000 gebildet wurde (vgl. Trajekte 2, 2001), am methodischen Paradigma von Schauplätzen und Figuren des Europäischen (vgl. die Vorstellung des Buches Figuren des Europäischen, AUS DER ARBEIT DES ZFL).

Neue Projekte am ZfL
Stand dabei bereits die Untersuchung der Dialektik der Säkularisierung im Mittelpunkt, so wurden in den 2005 neu begonnenen FORSCHUNGSPROJEKTEN die Frage nach unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Spuren in der Modernisierung verstärkt. Die neuen Projekte im FSP I, die im Rahmen der Ergänzungsausstattung des ZfL durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden, sind: Bibelphilologie und Literaturwissenschaft (Daniel Weidner, Kai Bremer), Intensität - Wirkungskonzepte in religiösen und ästhetischen Diskursen der Moderne (Franziska Thun, Sylvia Sasse), Figurationen des Märtyrers in nahöstlicher und europäischer Literatur (Michael Heß, Sabine Berthold, Sasha Dehghani, Sylvia Horch, Helen Przibilla), Der Umbau hinter der Restauration - Medienarchäologie der Nachkriegszeit (Inge Münz-Koenen, Oksana Bulgakowa, Justus Fetscher). Auf diese historisch angelegte Forschung beziehen sich folgende Projekte aus dem Forschungsschwerpunkt III zur Grundlagenforschung: eine Edition der Briefe von Erich Auerbach (Martin Vialon), ein Projekt zur Begriffsgeschichte nach dem 'cultural turn' (Ernst Müller, Falko Schmieder) und eine kulturwissenschaftliche Geschichte grammatischer Theorien (Robert Stockhammer).
Im Rahmen des Programms Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften von der VolkswagenStiftung wird das Projekt Erbe, Erbschaft, Vererbung gefördert, das in Kooperation mit Bernhard Jussen (Bielefeld) durchgeführt wird. Darin werden die historischen Veränderungen im Verständnis von ERBE erforscht, und zwar im Spannungsfeld zwischen kulturellen, rechtlichen und biologischen Bedeutungen (Sigrid Weigel, Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer). Insofern dabei sowohl religionsgeschichtliche Aspekte der Moderne, z.B. die Bedeutung der Memorialkultur, als auch wissenschaftsgeschichtliche Aspekte, wie die Geschichte der Vererbungstheorien, eine Rolle spielen, bildet das Projekt eine Verbindung zwischen dem FSP I und dem FSP II zur Kulturgeschichte des Wissens (AUS DER ARBEIT DES ZFL). Nach einer internationalen Tagung, die die Renaissance epigenetischer Forschung vor dem Horizont der Geschichte von Theorien zur 'Vererbung erworbener Eigenschaften' thematisiert hat, wird es in einer Arbeitstagung zum NACHLEBEN DER TOTEN IM ERBE im Juli nun darum gehen, inwieweit sich die Hypothese vom veränderten Status der Toten um 1800 halten lässt und welche Bedeutung eine veränderte Beziehung zwischen Lebenden und Toten auf die Bedeutung des Erbes hat (KALENDER).
Die starken slavistischen Kompetenzen am ZfL und die seit einigen Jahren praktizierte enge Kooperation mit Arabisten (im Forschungsumfeld von Angelika Neuwirth, FU Berlin) haben es möglich gemacht, im Rahmen der Geisteswissenschaftlichen Förderinitiative des Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Forschungsprojekt zu entwickeln, das die beschriebenen Konflikte der Europäisierung thematisiert, die durch die doppelte 'Verschiebung Europas nach Osten' deutlich geworden sind, zum einen durch die Ereignisse von 1989 und das Ende des Kalten Krieges und zum anderen durch die Osterweiterung der EU. Unter dem Titel TOPOGRAPHIE PLURALER KULTUREN EUROPAS werden ausgewählte Konstellationen aus jenem 'östlichen' Europa untersucht, das bislang aus dem Europabild der EU ausgeblendet war. Dabei geht es um Ungleichzeitigkeiten zwischen geographischen, politischen und kulturellen Verortungen in der vielschichtigen Semantik des 'Ostens', um Wechselbeziehungen zwischen Regionen und Zentren, um Übergänge zwischen Imperien und Nationalstaaten sowie post-sozialistische, post-koloniale und post-nationale Phänomene kultureller Vielfalt. In religionshistorischer Hinsicht sind dabei sowohl Ost- und Westkirche als auch islamische und jüdische Traditionen im Spiel. Die Teilprojekte sind: (1) Berlin und der Osten. Konzepte und Bilder des Ostens an einem Umschlagplatz europäischer Modernisierung, (2) Beirut und der Westen. Perspektiven exterritorialer Europäisierung, (3) Istanbul. Vom osmanischen Imperium zur türkischen Nation, (4) Der Osten liegt in der Mitte I: Polen und Ukraine (Galizien); (5) Der Osten liegt in der Mitte II: Balkan (Bosnien), (6) Das jüdische Odessa. Text und Territorium, (7) Eine plurale Grenzregion Europas: Kaukasus. Das Projekt ist von den Gutachtern zur Förderung empfohlen und soll Mitte des Jahres seine Arbeit aufnehmen. Es wird in Kooperation mit Kollegen der drei Berliner Universitäten und Kader Kanuk (USA) durchgeführt, Sprecher des Projekts wird Martin Treml sein.

Die Beiträge dieses Heftes
Aus dem Umfeld dieses Projekts stammen mehrere Beiträge in diesem Heft: so der Artikel über das Verhältnis von Europäisierung und Orientalisierung am Beispiel Ägyptens von Andreas Pflitsch, der dafür plädiert, das zumeist auf der zeitlichen Achse angesiedelte Paradigma Tradition - Moderne zu verräumlichen, so auch der Artikel über Heinrich Heines Überlegungen zur deutschen Sprache, an denen Stephan Braese seine These entwickelt, dass die deutsche Sprache in der Moderne als Sprache der Juden eine europäische Geltung erlangt hat (beide in KORRESPONDENZEN). In einem Gespräch, das Sylvia Sasse und Magdalena Marszałek mit Jurij Andruchovyč geführt haben, geht es um das Konzept der Geopoetik und die fiktive Landeskunde in seiner Literatur. Durch sie wird nicht nur die vertraute Mitteleuropa-Debatte aufgemischt, sondern auch avancierte kulturwissenschaftliche Theorien zum Verhältnis von Geographie und Topographie (AUS DER ARBEIT DES ZFL). Eine Wahlverwandte einer solchen poetischen Politik ist Yoko Tawada, die in zwei Sprachen (Deutsch und Japanisch) schreibt und aufgrund ihres Blicks auf Europa zu der Einsicht gelangt ist, dass jede Kultur ihre eigene Moderne entfalte und die aus dem Wunsch nach Rückversicherung gewonnene 'Tradition' immer eine Fiktion sei (KORRESPONDENZEN). Das gilt in EUROPA ebenso wie ANDERSWO. Welch wichtige Bedeutung z.B. die Auseinandersetzung mit der Mystik und dem Judentum selbst für einen Meister der Fiktionen wie Borges hatte, wird aus dessen Notizen über Martin Buber kenntlich. Lisa Block de Behar (Montevideo) stellt sie vor und zeigt in ihrem Kommentar, dass diese Lektüre auch für Borges' Spiel der Masken wichtig war, mit dem er konventionelle Herkunftsdiskurse durchkreuzte (AUS DEM ARCHIV). Und was mit einer Figur wie Carmen passiert, die in der europäischen Opern-, Kunst- und Filmgeschichte auch als Verkörperung Afrikas gilt, wenn sie ins reale Afrika, nämlich ins afrikanische Kino versetzt wird, untersucht der BILDESSAY von Dirk Naguschewski.
Schließlich sei auf den Kalender am Ende des Heftes verwiesen, in dem sich u.a. die Reihe der Mittwochsvorträge findet, die auch im Sommer 2006 fortgesetzt wird: mit Vorträgen des Literaturwissenschaftlers John Hamilton (derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin) und der Kunsthistorikerin Caroline Jones (MIT, Cambridge, Mass.) sowie des Sozialwissenschaftlers Jean-Louis Fabiani (ebenfalls Fellow am Berliner Wiko).

10 Jahre ZfL - und weiter?
Im Kalender findet sich auch der Termin für die Festveranstaltung, die das ZfL zu seinem zehnjährigen Bestehen im Jahre 2006 ausrichtet. Einige Freunde des ZfL und einige der Honorary Members, die ebenfalls anlässlich des zehnjährigen Bestehens ernannt wurden - es handelt sich um den Kunsthistoriker Hans Belting (Karlsruhe/Wien), den Philosophen und Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman (Paris), den Historiker Carlo Ginzburg (Los Angeles/Bologna), den Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès (Paris/Jerusalem) und den Philosophen Michail Ryklin (Moskau) -, werden mit kleinen Präsentationen zur Feier beitragen.
Ob bis dahin die Zukunft des ZfL gewisser ist als derzeit, unmittelbar nach Publikation der Empfehlungen des Wissenschaftsrats (WR) zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland, die einen Bewertungsbericht zu den sechs Geisteswissenschaftlichen Zentren enthält, ist ungewiss. In seinen Empfehlungen kommt der WR aufgrund einer gründlichen Evaluierung der einzelnen Zentren und des sie tragenden Modells zu einer umfassend positiven Bewertung und empfiehlt eine Weiterförderung von fünf der sechs Zentren. In dem Einzelbericht werden dem ZfL eine hervorragende interdisziplinäre Forschung und ein einmaliges Profil mit Modellcharakter bescheinigt:
"Das Zentrum für Literaturforschung hat sich in den Jahren seines Bestehens zu einem national und international anerkannten Forschungsinstitut entwickelt, das hervorragende interdisziplinäre Forschung in einem substantiellen Sinne betreibt. Profil bildend für die Arbeit sind sowohl die Auswahl der erforschten Gegenstände als auch die methodisch-theoretische Ausrichtung des Zentrums. Die Zusammenführung von Forschern aus ganz unterschiedlichen Disziplinen (von den Philologien über die Religions- und Wissenschaftsgeschichte bis zur Philosophie) ist im nationalen wie im internationalen Rahmen einmalig und könnte sich zu einem Modellprojekt entwickeln. Für die Zeit nach dem Auslaufen der gegenwärtigen Förderung durch die DFG am 31.12.2007 wird daher eine Fortführung des Zentrums als sehr begründet empfohlen. Das Zentrum sollte über einen eigenen Haushalt verfügen. Eine Förderung des tragfähigen und auf drei Forschungsschwerpunkten aufbauenden Forschungsprogramms sollte langfristig d.h. in den kommenden 12 Jahren ermöglicht werden." (Bewertungsbericht des WR zum ZfL, S. 25)
Gleichwohl ist mit dieser Empfehlung noch keine konkrete Perspektive verbunden. Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur hat die Weiterförderung der Grundfinanzierung zugesagt. Jetzt geht es um die Sicherung der Ergänzungsausstattung in Form einer vom WR empfohlenen längerfristigen, nachhaltigen Förderung des als herausragend evaluierten Forschungsprogramms. Wurde die Ergänzungsausstattung, auf der Basis einer Verabredung zwischen den Ländern und der DFG, bis Ende 2007 auf dem Wege der DFG-Projektförderung im zweijährigen Antragsrhythmus finanziert, so soll nun eine neue Förderform gefunden werden. Die Zukunft des ZfL wird davon abhängen, ob es diese Form ermöglicht, das dem WR vorgelegte Forschungsprogramm zu stabilisieren und auszubauen.

"Damit auch draufsteht, was drin ist ..."
Das Forschungskonzept, das dem WR vom ZfL vorgelegt worden ist, formuliert das Programm für ein ZENTRUM FÜR LITERATUR- UND KULTURFORSCHUNG. Mit dieser Erweiterung des Namens wird dem tatsächlichen interdisziplinären Profil entsprochen, mit dem das ZfL die Empfehlung des WR zur Gründung der Zentren im Jahre 1996 beim Wort genommen hat, nämlich eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschung an den Schnittstellen verschiedener Wissenschaften zu entwickeln. In der Evaluierung des WR (S. 110) heißt es: "Das ZfL ist zu einem profilierten, national und international sichtbaren Forschungszentrum geworden und zu einem maßgeblichen Ort in Deutschland einerseits für die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen historisch-philologischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen in den Geisteswissenschaften sowie andrerseits für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit den Natur- und Technikwissenschaften." Was solche Forschung zu leisten vermag, ist in dem Supplement nachzulesen, das dieser Ausgabe der Trajekte beigefügt ist. Dass die alte, liebgewordene Bezeichnung dieses Profil längst nicht mehr trifft, hat im übrigen immer wieder zu verschiedensten Missverständnissen geführt, nicht zuletzt auch zu Schwierigkeiten für die zahlreichen Wissenschaftler am ZfL, die nicht aus den Philologien stammen, sondern z.B. aus der Kunst-, Medien-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte, aus der Judaistik, der Islamwissenschaft und der Philosophie. Die Wissenschaftler am ZfL sind davon überzeugt, dass es sinnvoller ist, die Bezeichnung dem wissenschaftlichen Profil anzugleichen als umgekehrt.

Media Response

02 May 2006
Die Asiaten gibt es nicht

Review by Ingeborg Harms, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2 May 2006, 46