Figuren des Wissens
- Zum Tode von Stéphane Mosès (Sigrid Weigel)
- Vergegenwärtigung des Feindes. Zur Mehrdeutigkeit historischer Evidenz (Carlo Ginzburg)
- Figur, figürlich. Begriffsgeschichtliches bei Johann Heinrich Lambert (Ernst Müller)
- Figura Serpentinata (Margarete Vöhringer)
- "Belebte Schraube ohne Ende". Zur Vorgeschichte der Doppelhelix (Helmut Müller-Sievers)
- Vernetzungen. Zur Tradition eines aktuellen Denkmusters Olaf Breidbach
- Was der Pepita-Mann weiß. Erzählung (Georg Klein)
- Bildessay
Raumbild Labor (Hannes Rickli) - Aus dem Atelier
"What are the places of danger?" (Florian Dombois)
Excerpt
Mit dem Jahr 2008 beginnt für das ZENTRUM FÜR LITERATUR- UND KULTURFORSCHUNG eine neue Epoche: Die Arbeit an Methoden zur Erforschung der kulturgeschichtlichen, epistemischen, text- und bildtheoretischen Voraussetzungen gegenwärtig brennender Probleme, die sich nur interdisziplinären Kooperationen erschließen, kann auf sicherer und längerfristiger Grundlage weitergeführt werden. Ermöglicht wurde dies durch die Umsetzung der entsprechenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates: in Gestalt der Zusage des Landes Berlin, die Grundförderung der GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN ZENTREN BERLIN (GWZ) fortzusetzen, und einer sechsjährigen Projektförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Hiermit kann das zentrale Forschungsprogramm des ZfL zur Europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte finanziert werden, das durch weitere Drittmittelprojekte ergänzt wird.
Im dreizehnten Jahr seines Bestehens gibt es für das ZfL also Grund genug, zusammen mit Kollegen und Freunden, Unterstützern und Kooperationspartnern zu feiern. Gemeinsam mit den beiden anderen Berliner GWZ lädt das ZfL im Juni zu einer Festveranstaltung ein, auf der CARLO GINZBURG den Festvortrag halten wird. Ginzburg ist als Honorary Member des ZfL unseren Forschungen seit langem verbunden – genauso wie STÉPHANE MOSÈS, dessen Fehlen gerade bei diesem Anlass besonders schmerzlich sein wird. Mosès, der am 1. Dezember 2007 in Paris verstorben ist, hat mit seinen Vorträgen, Kolloquien und Gesprächen im ZfL wesentlich zur Entwicklung unseres Forschungsprogramms beigetragen. Aus seinem Aufenthalt als Gast des Projektes zur Dialektik der Säkularisierung ist ein kontinuierlicher Austausch entstanden, der mit dazu geführt hat, dass der Blick auf das Nachleben der Religionen in der Moderne und auf die Wechselwirkungen zwischen der Lektüre biblischer/ sakraler Quellen und literarischer Texte immer deutlicher zur Matrix unserer Arbeiten an Konstellationen der europäischen Kulturgeschichte geworden ist. Dadurch, dass ihm 2004 auf Vorschlag des ZfL der Humboldt-Forschungspreis verliehen wurde, konnte der Austausch intensiviert werden. Zu seinen Ehren veranstaltet das ZfL, gemeinsam mit dem Suhrkamp-Verlag, am 11. Juni, dem Tag seines Geburtstags, einen Abend In memoriam Stéphane Mosès.
Nach Stéphane Mosès und Georges Didi-Huberman wird mit CARLO GINZBURG dieses Jahr ein weiteres Honorary Member des ZfL mit einem Humboldt-Forschungspreis geehrt. Der Historiker will die Förderung nutzen, um in Berlin an einem Projekt zu mittelalterlichen Figuren der Replikation/Reproduktion in der Spannung von Natur und Artefakten zu arbeiten. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier einen Beitrag, in dem Ginzburg seine seit langem betriebenen Forschungen zum Problem der Evidenz fortsetzt. In früheren Arbeiten hat er sich u. a. dem Verhältnis von historiographischen und juridischen Konzepten des Beweises gewidmet oder etwa Methoden der Spurensicherung zwischen Indizienparadigma und Zeichentheorie für die kulturwissenschaftliche Forschung diskutiert. In der hier publizierten Fallstudie zur Mehrdeutigkeit historischer Evidenz erhalten nun philologische Methoden ein stärkeres Gewicht, insofern es um die Frage geht, welche Rolle Maurice Jolys Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu (1865) als mögliche Vorlage für das antisemitische Pamphlet der Protokolle der Weisen von Zion spielen. Thematisch geht es in Ginzburgs Beitrag um das – äußerst aktuelle – Phänomen des ‚modernen Despotismus’, indem Ginzburg eine genaue archäologisch-philologische Recherche jener Quellen vornimmt, auf die sich Michel Bounan in Logique de terrorisme (2003) und in seiner verschwörungstheoretischen Deutung des modernen Staates als „permanentes okkultes Komplott“ zur Aufrechterhaltung der Knechtschaft in dem Essay L’état retors (1987) bezieht.
FIGUREN DES WISSENS
Wem sich der Titel von Bounans Essay nicht umstandslos erschließt, erfährt im Wörterbuch, dass retors sowohl mit ‚gerissen’, aber auch – im bildlichen Sinne – mit ‚geschraubt’ übersetzt werden kann. Die gebräuchliche lexikographische Klassifizierung von bestimmten Übersetzungen als „fig. = figürlich, bildlich“ nimmt jedoch nur einen kleinen Ausschnitt des Figürlichen in den Blick: die im engeren Sinne als metaphorisch verstandene oder auch übertragene Bedeutung. Dass das Geschraubte jedoch Teil eines höchst heterogenen Wissensfeldes ist, zeigt der Beitrag von HELMUT MÜLLER-SIEVERS, der die Schraube nicht nur in der Geschichte der Technik ausmacht, sondern als eine äußerst vieldeutige und schillernde Figur der Philosophie- und Mediengeschichte vorstellt. Der Beitrag von OLAF BREIDBACH erinnert daran, dass wir es bei der Figur des Netzes, die häufig als Leitmetapher des elektronischen Zeitalters, als Möglichkeitsbedingung von prozessualem, interaktivem und flexiblem Wissen verstanden wird, mit einer Figur aus frühneuzeitlichen Epistemen zu tun haben, deren Digitalisierung nicht per se und ohne weiteres aus der starren Ordnung konventioneller Archive und einer statischen Ordnung des Wissens herausführt.
Wenn dieses Heft also Figuren des Wissens gewidmet ist, dann wird Figur dabei in einem sehr viel weiteren Sinne verstanden denn als sprachliches Phänomen übertragener Bedeutungen. Die Figur bezeichnet vielmehr eine – zu untersuchende – Konfiguration der Wissensgeschichte, die in sehr unterschiedlichen Medien zur Darstellung kommen kann: sei es in der Sprache oder im Bild, in der materiellen Kultur der Wissenschaften oder im Diskurs, in technischen Verfahren, in rituellen oder ästhetischen Praktiken. Am Beispiel der figura serpentinata zeigt MARGARETE VÖHRINGER, wie sich in dieser für den Manierismus zentralen Figur kinetische und ästhetische, bildliche und anthropologische Aspekte zu einem für die Kunstgeschichte zentralen Begriff verdichtet haben. Nach Kriterien von Inhalt und Form sind solche Figuren nicht auseinander zu falten und auch nicht ikonographisch als Bildmetapher eindeutig zu beschreiben. Durch die technischen Bilder und bildgebenden Verfahren sind in jüngster Zeit neue Formen experimenteller Forschung relevant geworden, denen – ungeachtet ihres flüchtigen Status’ im Labor – eine zunehmende Bedeutung als epistemische Figuren zukommt. Deren Untersuchung setzt allerdings eine systematische Recherche im Labor voraus, um ihrer überhaupt habhaft zu werden, wie der Bildessay von HANNES RICKLI deutlich macht.
Während im herrschenden Verständnis des Metaphorischen die Bedeutung des Figürlichen als Übertragung von der ‚eigentlichen’ zur ‚übertragenen’ Bedeutung eindeutig fixiert ist, legt die Figur die jeweils bedeutungskonstituierenden Operationen nicht vorab fest, sondern stellt gerade die Frage nach dem Wechselspiel zwischen Bild und Begriff, zwischen Form und Bedeutung, zwischen Materiellem bzw. Visuellem und Sinn. Die Arbeit an einem für kultur- und wissen(schaft)sgeschichtliche Forschungen produktiven Konzept der Figur und die Aufarbeitung der Geschichte theoretischer Annäherungen an dieses Konzept bildet die Grundlage für die Vorarbeiten zu einer Interdisziplinären Begriffsgeschichte, aus deren Kontext ERNST MÜLLER hier Überlegungen von Johann Heinrich Lambert vorstellt. Gegen die Abkanzelung Lamberts in Hans Blumenbergs Metaphorologie stellt Müllers Beitrag Lamberts zeichen- und symboltheoretische Ausführungen zur Figur vielmehr in die Vorgeschichte von Blumenbergs Arbeit an einer Rhetorik der Wissenschaften.
Unter dem Motto Figuren des Wissens steht auch die Europäische Konferenz der SOCIETY OF LITERATURE, SCIENCES, AND THE ARTS (SLSA), die dieses Jahr unter dem Titel Figurations of Knowledge vom ZfL ausgerichtet wird. Die Jahrestagungen der SLSA verstehen sich als internationales Forum für den Austausch über literatur-, kultur- und kunstwissenschaftliche Perspektiven der Science Studies, wobei auch den künstlerischen Praktiken selbst ein eigenes, spezifisches epistemisches Vermögen zuerkannt wird. In diesem Zusammenhang stehen in diesem Heft der literarische Text von GEORG KLEIN und ein Beitrag aus dem Atelier von FLORIAN DOMBOIS, der eine Reihe von Ausstellungsprojekten zur Ermittlung, Bezeichnung und zum interaktiven Umgang mit Places of Danger nachzeichnet.
NEUE ÄRA DES ZFL
Der Beginn einer neuer Epoche am ZfL schließt nicht nur den Start einer Reihe neuer Forschungsprojekte und die Gewinnung zahlreicher neuer Mitarbeiter ein, sondern auch die Möglichkeit, die Arbeitsstruktur zu reorganisieren und zu verbessern. Die Projektförderung orientiert sich am Erfolgsprinzip, sie erfolgt in Höhe der im Durchschnitt der letzten fünf Jahre bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworbenen Mittel. Zusätzlich stellt das Land Berlin auch weiterhin die Grundausstattung in gleicher Höhe wie bisher bereit. Da das ZfL bei der Einwerbung freier Drittmittel in den letzten Jahren sehr erfolgreich war, stehen z. Zt. weitere Forschungsmittel von jährlich ca. 500 000 Euro zur Verfügung, so dass der Haushalt für das Jahr 2008 ca. 3 Millionen Euro umfasst.
Das Forschungsprogramm, an dem überwiegend promovierte und habilitierte Fachwissenschaftler arbeiten, wird in Zukunft durch ein Doktorandenprogramm ergänzt. Die Arbeit wird künftig in sechs Forschungsbereichen mit eigenverantwortlichen Leitern organisiert: Der Forschungsschwerpunkt I „Europäische Kulturgeschichte“ untersucht die Ungleichzeitigkeiten in Modernisierung/ Säkularisierung unter Berücksichtigung jener Kulturen, die aus dem Konzept Europas als Ergebnis der Säkularisierung christlicher Tradition ausgeblendet sind. Die Forschungsbereiche und ihre Leiter sind: Europa/Osten: FRANZISKA THUN-HOHENSTEIN (Slawistik), Religion/Repräsentation: DANIEL WEIDNER (Literaturwissenschaft), Archiv/Kulturwissenschaft: MARTIN TREML (Religionswissenschaft). Der Forschungsschwerpunkt II „Kulturgeschichte des Wissens“ arbeitet an Schnittstellen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere in den Feldern von Vererbungs-, Emotions- und Kognitionsforschung. Die Forschungsbereiche und ihre Leiter sind: Erbe/Vererbung: OHAD PARNES (Wissenschaftsgeschichte), WissensKünste: SABINE FLACH (Kunstwissenschaft), WissensOrdnungen: STEFAN WILLER (Literaturwissenschaft).
In der Beratung von Forschungsvorhaben, Kooperationen und dem Gästeprogramm wird die Leitung des ZfL künftig durch zwei assoziierte Ko-Direktoren unterstützt: THOMAS MACHO (Kulturwissenschaft, HU Berlin) und ANGELIKA NEUWIRTH (Arabistik, FU Berlin). Der Direktorin steht künftig ULRIKE VEDDER als persönliche Referentin zur Seite.
Der Kreis der renommierten Honorary Members wird 2008 um den amerikanischen Bildwissenschaftler WILLIAM J. T. MITCHELL und die russische Historikerin und Menschenrechtsaktivistin IRINA SCHERBAKOWA erweitert. Die Mitglieder des neuen, international besetzten Wissenschaftlichen Beirats sind JÜRGEN FOHRMANN (Bonn), RODOLPHE GASCHÉ (Buffalo, NY), MICHAEL HAGNER (Zürich), HELMUT LETHEN (Wien), CAROLINE JONES (Cambridge, Mass.), ANSON RABINBACH (Princeton), MONIKA WAGNER (Hamburg).
AUS DEN PROGRAMMEN DER NEUEN FORSCHUNGSPROJEKTE
Aporien forcierter Modernisierung: Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium (Franziska Thun-Hohenstein/ NN) – In diesem Projekt soll die spezifische Variante der sowjetischen Modernisierung mit ihrer Konstruktion des homo sovjeticus im Hinblick auf den Diskurs des Nationalen untersucht werden. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die kulturhistorische Genese von gegenwärtigen Konflikten zwischen Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind. Allein die aufgezwungene Einführung kyrillischbasierter Alphabete in verschiedenen Regionen der UdSSR verweist auf den russifizierenden Charakter einer Modernisierung sowjetischer Prägung. War in der Rhetorik von Gleichheit und „unverbrüchlicher Freundschaft“ zwischen den Völkern die Virulenz ungelöster nationaler Spannungen als latentes Konfliktpotential verdrängt, so ist dieses seit der Perestrojka-Zeit, vor allem mit dem Zerfall des Sowjetimperiums, an verschiedenen Orten in Form gewaltsamer Auseinandersetzungen wieder aufgebrochen und zu neuen nationalen Vorurteilen und Stereotypen geronnen. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Problemlage sind kultur- und literaturhistorische Forschungen neu zu konzipieren, die an drei Zäsuren (1922, 1936, 1953/56) diskursive, ikonographische und symbolische Repräsentationen des Nationalen im Sowjetimperium – in einer wechselseitigen Perspektive – untersuchen.
Sakramentale Repräsentation (Stefanie Ertz/ Heike Schlie/ Daniel Weidner – Dieses Projekt untersucht religionshistorische Prägungen der Verknüpfungen von Bildlichkeit und Schriftlichkeit am Beispiel frühneuzeitlicher Phänomene sakramentaler Repräsentation. Während Michel Foucaults Theorem der Zäsur zwischen vormodernem, ternärem Schriftsystem und klassischem Zeitalter des Zeichens ohne jede Reflexion auf religiöse Dimensionen der Repräsentation auskommt, kann dieses Projekt an Michel de Certeau und Louis Marin anschließen, die die Bedeutung der Religion für die symbolischen Praktiken der entstehenden Moderne betont haben. Bei der Erforschung der sakramentalen Repräsentation geht es um ein System heiliger Zeichen, Bilder und Rituale, in dessen Mitte die Eucharistie steht, zu dem aber auch andere Sakramente und quasi sakramentale Vollzüge wie die Predigt, Gegenstände wie die wundertätigen Bilder oder die Sakramentalien der Volksfrömmigkeit gehören. Das Sakrament ist dabei keineswegs ein Zusammenfallen von Sein und Sinn, sondern artikuliert sich in komplexen und stets umstrittenen Modellen, die Bild und Handlung ebenso miteinander verknüpfen wie Vertrag und Körper, Gedächtnis und Opfer usw. Auch für den frühneuzeitlichen Bilderstreit sind sakramentale Figuren von entscheidender Bedeutung. Dabei wird der Schritt vom Bild zum Kult keineswegs durch die direkte Ersetzung religiöser durch ästhetische Ikonen vollzogen. Charakteristisch für die Frühe Neuzeit ist vielmehr eine hybride Form der Wissens-Bilder, die die Differenz der Medien zum Einsatz bringen, um das Wissen in seiner Totalität darstell- und erfahrbar zu machen. Gerade aufgrund dieser hybriden Bildlichkeit ist das Sakrament auch medial nicht eindeutig zuzuordnen, weil es seine Dynamik aus dem Wechsel der Leitmedien vom Bild zur (Druck)Schrift bezieht. Text-Bild-Gattungen wie die Emblematik machen das ebenso deutlich wie das Theater, in dessen theoretischer Reflexion über die Fragen nach dem möglichen oder zulässigen Modus der Vergegenwärtigung immer auch eine sakramentale Dimension mitgedacht wird, die für die Herausbildung europäischer Medialität vielleicht nicht weniger wichtig sind als das antike Erbe.
Edition der Schriften von Susan Taubes (Christina Pareigis/ Sigrid Weigel) – Ziel des Projektes ist die Erarbeitung einer in englischer und deutscher Sprache zu publizierenden Edition aus dem Nachlass der Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin Susan Taubes, geb. Feldman (1928–1969), der dem ZfL von den Erben überlassen wurde. Das Werk der Autorin, deren Biographie (mit Stationen in Budapest, New York, Paris, Jerusalem) für die intellektuelle Geschichte und Exilerfahrung von Juden im 20. Jahrhundert steht, entstammt der Zeit des Aufbruchs in der Nachkriegskultur Europas und der USA in den 1950er und 1960er Jahren. Taubes’ weitgehend unbekannte wissenschaftliche Beiträge sind für die gegenwärtige Theoriedebatte hochaktuell, da sie Teil einer religionsgeschichtlich interessierten Kulturanthropologie sind, wie sie an amerikanischen Universitäten Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde; sich aber im Unterschied dazu auf Traditionen der deutschen und französischen Philosophie beziehen (Heidegger, Nietzsche, Simone Weil u.a.). Die ästhetischen Kontexte ihres literarischen Werks sind dagegen eher in der europäischen Nachkriegsavantgarde zu suchen. Wissenschaftliches und literarisches Werk dokumentieren ein Ineinanderspiel von Mythos, Religion, Philosophie, Literatur und Leben, das die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen überschreitet und dessen Fragestellungen – wie z.B. das Verhältnis von jüdischem Denken und deutscher Philosophie nach 1945 oder die Erfahrung der Abwesenheit Gottes – nicht nur für die gegenwärtige Theorieentwicklung und die Wiederentdeckung religionsgeschichtlicher Ursprünge der Kultur von großer Aktualität sind. Der Nachlass enthält wissenschaftliche Aufzeichnungen, umfangreiche literarische Manuskripte, Reise- und Tagebuchaufzeichnungen (u.a. von einer Reise nach Budapest im Jahr ihres Freitodes 1969) und faszinierende Korrespondenzen (u.a. einen umfangreichen Briefwechsel mit Jacob Taubes aus den Jahren nach ihrer Heirat). Diese Hinterlassenschaften sind Grundlage für die Edition, die aus drei Abteilungen bestehen soll und voraussichtlich sechs Bände umfassen wird: 1. Wissenschaftliche Schriften (2 Bde.), 2. Literarische Manuskripte (2 Bde.), 3. Korrespondenzen und persönliche Aufzeichnungen (2 Bde.).
Briefausgabe der Korrespondenz von Jacob Taubes (Martin Treml/ NN) – Ein Konvolut mit umfangreicher Korrespondenz von Jacob Taubes, das sich aus der Zeit seiner Tätigkeit an der FU Berlin erhalten hat, ist dem ZfL von den Erben zur Betreuung und Bearbeitung überlassen worden. Zahlreiche Aktenordner mit von- und an-Briefen aus den Jahren 1965 bis 1982 bilden die Grundlage für die Erarbeitung zweier ausgewählter Briefbände: erstens einer Edition des Briefwechsels zwischen Taubes und Carl Schmitt, zweitens eines Bandes mit ausgewählten Briefen, teils Briefwechseln, die um Netzwerke und konfliktreiche Verbindungen aus der Geschichte der Intellektuellen und der Geisteswissenschaften gruppiert sind, die vom Berlin der 1960er Jahre ausgehend sich über New York bis nach Paris und Jerusalem erstrecken. Dazu gehören u. a. die Geschichte von Poetik und Hermeneutik, der Konflikt um die Goll-Affäre und Paul Celan sowie der Streit um die Religionsphilosophie und Hermeneutik an der FU Berlin. Ausgehend von der skandal- und mythenumwobenen Gestalt Jacob Taubes, die sich nicht zuletzt auf sein Büchlein Ad Carl Schmitt (1987) stützt, geht es darum, mit diesen Editionen eine quellengestützte Betrachtung des Dialogs zwischen einem jüdischen Intellektuellen und herausragenden Philosophen und den Geisteswissenschaftlern seiner Zeit zu erarbeiten.
Freud und die Naturwissenschaften: um 1900 und um 2000 (Christine Kirchhoff/ Gerhard Scharbert) – Die Untersuchungsanordnung des Projekts gründet in einer gegenstrebigen Konstellation: Es gilt, die neuronalen Grundlagen der Psychoanalyse und die psychischen Begriffe der Neurologie genauer zu fokussieren. Denn während Sigmund Freud mit seinen Arbeiten - vor allem mit dem „Entwurf zur Psychologie“ (1895), in dem er eine naturwissenschaftliche Theorie des Gedächtnisses auf neuronaler Grundlage entwickeln wollte - an die Grenzen empirischer Methoden gestoßen ist und daraus die Psychoanalyse entwickelt hat, die sich vom Lokalisierungsparadigma verabschiedet, haben heutige Neurologen, denen mit den bildgebenden Verfahren ungleich weiterreichende Aufzeichnungstechniken zur Verfügung stehen, gleichsam an der Grenze neuronaler und biochemischer Vorgänge die Psychoanalyse, den Traum, das Unbewusste oder Freud wiederentdeckt, bis hin zum Konzept einer ‚Neuropsychoanalyse’.
Im Zwischenraum beider Bemühungen steht die erkenntnistheoretische Frage, die ihre expliziteste Formulierung bisher in Freuds „Entwurf“ zum Problem der Kompatibilität zwischen Quantitäts- und Qualitätsparadigma gefunden hat. Mit dem Ziel einer wechselseitigen Erhellung geht es im Projekt darum, einerseits eine bislang ausgebliebene systematische Untersuchung zur Rolle naturwissenschaftlicher Referenzen in Freuds Entwicklung der psychoanalytischen Theorie durchzuführen, und andererseits zu erkunden, was sich genau mit der aktuellen Wiederentdeckung Freuds verbindet und welche Aspekte, Indikatoren und Begriffe dabei für die neurologische Forschung relevant werden.
Ausdrucksgebärden zwischen Evolutionstheorie und Kulturgeschichte (Erik Porath/ Tobias Robert Klein) – Eine andere ‚heiße Zone’ betrifft die Ausdrucksgebärden als epistemischen Schauplatz, auf dem sich seit je physiologische/ biologische und kulturwissenschaftliche/ künstlerische Deutungsmuster berühren, überlagern und miteinander konkurrieren. Haben Ausdrucksgebärden gegenwärtig – zusammen mit der Aufwertung der Gefühle/ Emotionen in der Hirnforschung und dem Siegeszug digitaler Aufzeichnungstechniken – eine zentrale Bedeutung als Indikatoren für die Erforschung des Denkens erhalten, so sollen in diesem Projekt die wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen dafür erarbeitet werden. Das Projekt nimmt seinen Ausgang bei der Frage nach der Rolle naturwissenschaftlicher und evolutionsbiologischer Theoreme für die Entwicklung von Aby Warburgs Begriff der Pathosformel. Während zur Bedeutung visueller Bilder aus Kunst und Medien etwa für die Medizin vorbildliche Studien vorliegen (z.B. Georges Didi-Hubermans Charcot-Studie), sind umgekehrt die naturwissenschaftlichen Grundlagen kultureller Begriffe von Ausdruck, Gebärde und Geste zu wenig untersucht. Gegenstand des Projekts sind Konzepte des Ausdrucks und der Ausdrucksgebärden im 19. und 20. Jahrhundert an der Schnittstelle zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Theoremen (wie etwa Pinderit, Lipps, Vischer, Goldstein, Kris, Wölfflin, Vischer etc.).
Emotion and Motion: Darwin und die Künste (Sabine Flach/ Jan Söffner) – In Weiterentwicklung des Formats der WissensKünste geht es hier um die wissenschaftliche Konzeption und Begleitung von experimentellen Formen der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst. Als erstes ist ein Projekt geplant, in dessen Mittelpunkt eine große Darwin-Ausstellung steht. Hierbei geht es um die epistemische Bedeutung der Bewegungen für die Affekte. Zur Analyse dieses Zusammenhangs geht das Projekt in doppelter Weise vor: (a) In komparatistischer Perspektive untersucht es die Inszenierung des Zusammenhangs von Emotion und Bewegung in der Gegenwartskunst und -literatur mit der Hypothese, dass die Künste nicht nur Experimentalanordnungen zur Analyse von Wissensformationen sind, sondern selbst über spezifische, nicht dem Paradigma von Objektivierung unterliegende Verfahren der Wissensgenerierung verfügen. Entgegen der in den Neuro- und Kognitionswissenschaften betriebenen Privilegierung des Gesichts als Visualisierungsfläche von Emotionen ist es in Kunst und Literatur der Körper in Bewegung, der zum Medium von Emotionen wird. Anhand der Analyse der Bewegungen des Körpers und der je spezifischen Medialität (Literatur, Video, Film) soll ein Begriff der Medialität von Emotionen herausgearbeitet werden, der weder auf technische Medien noch auf Medien des Ausdrucks zu reduzieren ist. Vielmehr geht es darum, Emotionen in Bezug auf Zeitlichkeiten und Topographien eines ‚Zwischen‘ zu denken. In Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichem Wissen und kulturell-historischen Codierungen von Emotionen artikulieren gegenwärtige künstlerische und literarische Inszenierungen die Beziehung von Innen/ Außen als eine wechselseitige Bedingtheit und loten Emotionen als Verhältnis von technischer Bildlichkeit und Physiologie aus, dem der Index der Bewegung konstitutiv eingetragen ist.
(b) Der aktuelle Schauplatz Emotion and Motion wird auf seine Genealogie hin befragt. Hierfür ist Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animals grundlegender Referenzpunkt, rückt Darwins Arbeit doch nicht nur den Bezug zwischen Emotion und Körperbewegung in den Blick, sondern überdies von einer reinen Ausdrucksebene zugunsten der Entwicklung eines Symbolsystems ab. Das Projekt analysiert zum einen Darwins naturwissenschaftliches Symbolsystem der Emotionen in Bezug auf seine strukturellen Elemente wie Gegensätzlichkeit/ Unentscheidbarkeit, Zeitlichkeit/Wiederholung sowie Kehrseiten von Emotionen. Zum anderen geht es um eine methodische Analyse der Beziehung zwischen Darwins Forschungen, der bildenden Kunst und der Literatur. Im Zentrum steht dabei Darwins Aufmerksamkeit für Nebendinge und Beiwerk. Ziel ist es, Darwins Methode als epistemologischen Grenzgang zwischen Naturwissenschaft und den Künsten zu untersuchen und auf diesem Wege eine Relektüre seiner Theorie der Emotion vorzunehmen.
Sigrid Weigel