Zentrum für Literaturforschung (ed./eds.)
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Heft 6

Trajekte 6
Berlin 2003, 44 pages
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Ästhetisches Wissen und wissenschaftliche Disziplin. (Waltraud Naumann-Beyer)
  • Aus dem Archiv
    Vergessene Pathographien – die Zeitschrift 'La Chronique Médicale' (Marie Guthmüller)
  • Bildessay
    Noch mehr als Natur? Zu LawickMüllers 'perfectly SUPERnatural' (Hilmar Frank)
  • Korrespondenzen
    'La foi qui guérit' / 'The Faith-Cure'. Charcot und Zola vor dem Faszinosum der Wunderheilung von Lourdes (Ursula Link-Heer)
    Nietzsches ästhetische Anthropologie (Carsten Zelle)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Lichtenbergsche Figuren: Physik und Ästhetik (Dieter Kliche)
    'Tout le reste est ... littérature'. Valéry und die Frage nach der Wissenschaft (Mai Wegener)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Excerpt

Sigrid Weigel

I. Wissenschaftspolitik

Die Pläne des Hamburger Senats für eine 'Reform' der Universität, die auf eine drastische Einsparung bei den Geisteswissenschaften zugunsten der Naturwissenschaften und eine Schließung vor allem der 'kleinen Fächer' hinausläuft, ist nur ein besonders krasses Beispiel für einen gegenwärtig um sich greifenden Trend der Wissenschaftspolitik: die Orientierung der Förderung von Wissenschaft und Forschung an Gesichtspunkten technologischer Innovation und ökonomischer Verwertbarkeit. Auch in Berlin waren schon Stimmen zu vernehmen, die ähnliches vorschlugen. Da die Arbeiten der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften nicht unmittelbar in meß- und errechenbare Leistungen konvertierbar sind, sondern eher ein symbolisches Kapital darstellen, geraten sie immer mehr ins Jenseits politischer Interessen.

Doch für die Geisteswissenschaften gilt, daß ihr Innovationspotential sich nur darüber entfaltet, daß ihre Forschung nicht mit kurzfristigen, anwendungsbezogenen Bedarfen enggeführt wird. Ihre Bedeutung ist nur auf dem Umweg über qualitative Kriterien und den kulturellen Nutzen ihrer Forschung zu bestimmen, d.h. nur langfristig. Die habitualisierte Weigerung vieler Geisteswissenschaftler, sich überhaupt auf eine Debatte über die Nützlichkeit ihrer Arbeit einzulassen, hat allerdings durchaus dazu beigetragen, daß sie ins politische Abseits geraten sind. Da sich die Bedeutung der Humanities offenbar nicht mehr von selbst versteht – die ubiquitäre Frage „Wozu noch Geisteswissenschaften?“ ist das Symptom dafür –, haben die Geisteswissenschaftlichen Zentren ihre Veranstaltung zu Perspektiven geisteswissenschaftlicher Forschung, die im Dezember 2002 in Berlin stattgefunden hat, ausdrücklich auch auf wissenschaftspolitische Fragen hin ausgerichtet: Zu welchem Ende braucht eine Wissensgesellschaft, in der Technologie und Sciences immer mehr den Ton angeben, die Humanities?

Der historische Index kulturwissenschaftlicher Forschungsfragen ist die Jetztzeit, doch ihre spezifischen Kompetenzen erwachsen aus den tradierten Methoden- und Wissensbeständen und der Fähigkeit, aktuelle Entwicklungen mit Hilfe historischer Dimensionierung und kultureller Kontextualisierung auf ihre impliziten Voraussetzungen und Effekte hin zu untersuchen. Nicht aus bloßen Bestandssicherungsinteressen, sondern im Hinblick auf die genannte Entwicklung vertreten die GWZ die Position, daß es eigenständiger Forschungseinrichtungen in den Geisteswissenschaften ebenso bedarf, wie diese in den Natur- und Technikwissenschaften selbstverständlich sind – ohne daß dort etwa der Verdacht aufkäme, ein Max-Planck-Institut diskreditiere die universitäre Forschung im selben Gebiet. Im Gegenteil: Die universitäre Forschung wird gestärkt und gestützt durch ergänzende eigenständige Forschungsinstitute, die längerfristige interdisziplinäre Forschungsziele verfolgen und ihre Ergebnisse und Erfahrungen – nicht zuletzt durch die Nachwuchswissenschaftler – an die Universitäten zurückgeben. In den Diskussionen der genannten Veranstaltung hat sich dafür die Formel von der „Halbdistanz zu den Universitäten“ herausgebildet: Halbdistanz bedeutet personelle und inhaltliche Kooperation mit den Universitäten bei institutioneller Unabhängigkeit.

Wenn aber der Grundsatz, geisteswissenschaftliche Forschung sei allein eine Sache der Universitäten, uneingeschränkte Geltung beansprucht, so bedeutet das, daß – aufgrund der föderalen Struktur – die Forschungsförderung in diesem Feld allein in die Verantwortung und den Finanzierungsrahmen der Länder fällt, während Wege der direkten Bundesförderung verschlossen bleiben. So wird es der geisteswissenschaftlichen Forschung nicht gelingen, auf Augenhöhe in den dringend gebotenen Dialog mit der naturwissenschaftlichen Forschung einzutreten. Deshalb sind wir der Meinung: Die Forschungslandschaft braucht viele Geisteswissenschaftliche Zentren. Nachzulesen ist dies alles in einer Broschüre mit den Beiträgen der Veranstaltung, die im Sommersemester von den GWZ an alle Interessenten verschickt werden kann: im Beitrag von Hinrich Seeba (Berkeley) über die sehr viel stärkere Nachfrage nach den Humanities in den USA, im Plädoyer von Sigrid Weigel für die Nutzung geisteswissenschaftlicher Kompetenz für Innovation und für eine den Problemen adäquate Forschungsplanung sowie in den Beiträgen der sechs Geisteswissenschaftlichen Zentren in Leipzig, Potsdam und Berlin, die für ihr jeweiliges thematisch-fachliches Feld Forschungsperspektiven formulieren. Eine Auswertung der bestehenden Institutions- und Förderform der Zentren, die die drei Berliner GWZ erarbeitet haben, wird im Jahresbericht 2002 abgedruckt ebenso wie einige Überlegungen zur längerfristigen Profilierung der Forschung über den Zeitraum der derzeitigen Laufzeit der GWZ (bis 2007) hinaus.

 

II. Forschung

Die sechste Nummer der Trajekte soll sich dagegen, wie die vorausgegangenen Nummern auch, auf die Vorstellung der inhaltlichen Arbeit konzentrieren. Sie ist diesmal dem Bereich einer Zweiten Ästhetik bzw. einer physiologischen Ästhetik (Nietzsche) oder auch jener sogenannten Ästhetik von unten (Fechner) gewidmet, jener Aisthesis also, die mit der Geschichte physiologischen und psychologischen Experimentalwissens korrespondiert. Während die Ästhetik – aufgrund der Dominanz analytischer Philosophie – in den deutschen Universitäten gegenwärtig nur noch marginal vertreten ist, hat sich aus dem nicht disziplingebundenen Schwerpunkt für Ästhetik an der Akademie der Wissenschaften der DDR eine besondere Kompetenz und ein spezifisches Forschungsinteresse für die Geschichte der Ästhetik am ZfL erhalten und weiterentwickelt. Das kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß große Teile der Forschungen für das Historische Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe (in 7 Bänden, Metzler Verlag) betrieben werden, sondern auch in etlichen Forschungsprojekten. In diesem Jahr erscheint neben dem fünften Band auch ein Buch von Waltraud Naumann-Beyer über die Hierarchie der Sinne (Böhlau Verlag). Die Autorin dieser Monographie leitet, zusammen mit Wolfgang Klein (Universität Osnabrück), ein Projekt, das die Schnittstellen zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Theoriebildung (mit Schwerpunkt Ende 19. Jahrhundert) erforscht. Sie gibt hier Auskunft über den Untersuchungshorizont, dem die Beiträge dieses Heftes angehören. Sie entstammen teils einem Workshop zum Thema, der im November 2002 in der Jägerstraße stattfand: so Ursula Link-Heers Untersuchung zum Zusammenhang von Medizin und Literatur am Beispiel von Zola und Charcot, mit der die lange durch den 'Darwinismus' geprägte Zola-Rezeption zu einer anderen Perspektive hin geöffnet wird; ebenso Carsten Zelles Lektüre von Nietzsches nachgelassenen Schriften und den Annotaten in seiner Bibliothek, die sein ausgeprägtes Engagement für eine „Physiologie der Ästhetik“ bezeugen können (vgl. Korrespondenzen). Und auch die Arbeit des Künstlerpaares LawickMüller Perfectly SUPERnatural, die der Bildessay präsentiert, wurde auf dem Workshop vorgestellt und diskutiert.

Die anderen Beiträge geben Einblick in laufende Forschungsarbeiten des ZfL: Marie Guthmüllers Archivfund, die medizinisch-pathologische Diagnostik von Literatur und Schriftstellern in der Zeitschrift La Chronique Médicale, entstammt dem genannten von Naumann-Beyer geleiteten Projekt. Während hier eine Dominanz der Medizin über die Kunst zu beobachten ist, hat Paul Valéry sich ausdrücklich in das Zwischenreich von Kunst und Wissenschaft begeben, um vor die Trennung der zwei Wissenschaftsklassen zurückzugehen, wie Mai Wegener zeigt, deren Arbeiten in den Kontext des von Karlheinz Barck geleiteten Forschungsprojekts "Leonardo-Effekte. Exemplarische Konstellationen aus der Trennungsgeschichte von Natur- und Geisteswissenschaften: 1800 – 1900 – 2000" gehören. Mit der auch für dieses Projekt relevanten Konstellation einer inspirierten Interaktion zwischen der Kunst und den gerade erst sich als Fachwissenschaft etablierenden Erforschungen der Naturgesetze Ende des 18. Jahrhunderts steht das Projekt der Lichtenbergschen Figuren von Dieter Kliche in enger Verbindung: Diese umspannen ein faszinierendes Feld zwischen der von Lichtenberg erfundenen elektrostatischen Geheimschrift, der Steganographie, und der von ihm formulierten Semiotik der Affekte, eine wissenschaftsgeschichtliche Konstellation voller 'geistiger Elektrizität'.