Amit Levy, Benjamin Pollock, Daniel Weidner, Christian Wiese (Hg.)
Eine Publikation des Franz Rosenzweig Minerva Research Center der Hebrew University of Jerusalem

Die Kreatur – Lesarten einer Zeitschrift
Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte

Bd. 13, Heft 1–2 (Dez. 2019)
de Gruyter, Berlin 2019, 202 Seiten
ISSN 1862-9156 (Online), 1862-9148 (Print), DOI 10.1515/naha-2019-0012

Von 1926 bis 1930 erscheint bei Lambert Schneider die Zeitschrift Die Kreatur. Einerseits repräsentiert sie eine typische Kulturzeitschrift der 1920er Jahre, in der sich die Krisen- und Aufbruchsstimmung der Weimarer Republik niederschlägt. In ihr wird „Neues Denken“ entworfen und mehr noch gefordert, insbesondere ein neues Verständnis des Menschen jenseits von Naturalismus und Idealismus. Das folgt keinem festen Programm und keinem klar profilierten Konzept des Kreatürlichen; vielmehr enthalten die drei Jahrgänge auf den ersten Blick recht verschiedene Aufsätze zur Philosophie, Anthropologie, Medizin, Pädagogik, Theologie, zu Literatur- und Kulturkritik und selten zur Politik – Aufsätze, die auch sehr verschiedene Formen von der kleinen Abhandlung über die subjektive Beobachtung bis zum Kommentar und offenen Brief umfassen. Gerade diese Vielfalt ist überhaupt charakteristisch für die Zeitschriften der Zeit, die zum Experimentierfeld dynamischer und komplexer Diskurse werden, die sich nicht mehr an die Grenzen zwischen Disziplinen und etablierten Wissensfeldern halten.

Andererseits zeichnete sich die Zeitschrift bereits für die Zeitgenossen dadurch aus, dass die drei Herausgeber Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig drei verschiedenen Konfessionen angehörten, dass hier ein Jude, ein Protestant und ein Katholik nicht nur zusammenarbeiteten, sondern auch das „Gespräch“ programmatisch in den Mittelpunkt stellten. Auch hier repräsentieren die Autoren – zu ihnen gehören Franz Rosenzweig, Florens Christian Rang, Rudolf und Hans Ehrenberg, Leo Schestow, Nikolai Berdjajew, Walter Benjamin, Hans Trüb, Fritz Klatt und andere – keine feste Gruppe, sondern gehören Milieus an die sich sonst eher fern standen. Es handelt sich hier um ein Netzwerk, wie man heute sagen würde, und dieses Netzwerk zeichnet sich nicht nur durch offene Ränder aus, sondern dadurch, dass gerade die Berührungspunkte produktiv werden: wo Juden über Christen und Christen über Juden sprechen oder wo es Martin Buber – die treibende Kraft und ein begnadeter Netzwerker, wie seine Korrespondenz immer wieder zeigt – gelingt, kontroverse Positionen zur Bildung oder zur Philosophie nebeneinander in der Zeitschrift zu präsentieren.

Die Lektüre einer Zeitschrift wie der Kreatur ist daher eine Herausforderung wie auch ein Versprechen. Denn jedes Heft, aber auch die Zeitschrift als ganze stellt ihre Leser vor hermeneutische Probleme: Wie soll man einen Text lesen, der nicht mehr von einem Einzelnen geschrieben wird, der vielstimmiger und offener ist als unsere rückblickende, zumeist an einzelnen Autoren orientierte Perspektive suggeriert? Wie kann man mit der Aktualität umgehen, die eine Zeitschrift ja auch beansprucht, mit der Tatsache, dass man es hier oft eher mit essayistischen Entwürfen als mit ausgeführten Thesen zu tun hat? Kann man an Zeitschriften – gerade solche aus so dynamischen Zeiten wie den 1920er Jahren – die Zirkulation des Wissens gewissermaßen in actu beobachten? Und was sagen sie uns über das, was man heute die „Hybridisierung“ des Wissens nennen würde, die Mischung und Verschmelzung verschiedener Diskurse, von Theologie und Politik, Medizin und Pädagogik?

Diese Fragen standen im Zentrum eines kleinen Forschungsprojektes, das Gerald Hartung und Daniel Weidner in Kooperation mit Yfaat Weiss durchführten und in dessen Rahmen auch im Januar 2017 ein Workshop am Franz Rosenzweig Minerva Research Center stattfand, für dessen Vorbereitung vor allem Anna Pollmann ein großer Dank gebührt. Aus den sehr lebendigen Diskussionen dieses Workshops – auch hier stand ja das „Gespräch“ im Vordergrund – sind einige Beiträge entstanden, die hier zu einem Themenschwerpunkt zusammengefasst sind. Enrico Rosso untersucht die Netzwerke, aus denen Die Kreatur hervorgegangen ist, und reflektiert über methodische und theoretische Implikationen des Netzwerkbegriffs für die intellectual history. Galili Shahar entfaltet die Implikationen der Rede von der Kreatur anhand eines Textes von Joseph Wittig nach und zeigt, dass es sich hier um eine Denkfigur mit großen poetischen Potentialen handelt. Birgit Erdle liest zwei im selben Jahrgang erschienene Texte von Werner Picht und Ernst Simon und arbeitet die hermeneutischen und theoretischen Synergien solcher Nachbarschaft heraus. Gustav Frank zeigt am Beispiel Walter Benjamins, dass eine Zeitschrift wie Die Kreatur immer auch im Kontext anderer Zeitschriften zu betrachten ist, letztlich in einer Medienlandschaft, die ein höchst produktives Netz aus Netzen bildet.

Veranstaltung

Workshop an der Hebräischen Universität Jerusalem
11.01.2017 – 12.01.2017

Die Zeitschrift »Die Kreatur« (1926–1930) als Netzwerk und Diskursmedium

Hebräische Universität Jerusalem, Mount Scopus Campus, Jerusalem 91905 (Israel), Rabin Building, R. 2001

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