Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Heilige Berge

Trajekte 26
Berlin 2013, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036
  • Sigrid Weigel: Karlheinz Barck 1934–2012
  • Ursula Röper/Martin Treml: Jerusalem in Görlitz. Vom Sterben auf Höhen, Liegen in Höhlen, von Wegen hinauf und hinein
  • Daniel Weidner: »Bis heute kennt niemand sein Grab«. Der Berg Nebo in der biblischen Erzählung
  • Bildessay
    Franziska Koch: Eine Reise entlang des georgischen Kaukasus
  • Giorgi Maisuradze: Mythos Berg
  • Emzar Jgerenaia: Zur Semantik des Berges in der georgischen Kultur
  • Claude Haas: Gottes Arbeit – Plan der Welt? Heilige Berge im Zeichen des Völkermords bei Ernst Jünger und Jonathan Littell
  • Aurélia Kalisky: Der Ararat als Zeugenberg des armenischen Gedächtnisses
  • Susi Frank: Mythos Nordpol. Der Gipfel der Erde
  • Falko Schmieder: Unheilige Berge. Über den Abfall des Menschen

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Am Ende von La Fable mystique, dem großen Werk über die mystische Imagination an der Schwelle zur Moderne, unterscheidet Michel de Certeau eine Topik des Aufstiegs von einer der Ausdehnung: Während der spirituelle Weg noch im 16. Jahrhundert als kontinuierlicher Aufstieg zum Ort der Wahrheit erscheint, zeigt sich im 17. Jahrhundert die Zentralmetapher des Weges und der Wanderung. Jean de Labadie etwa, konvertierter Jesuit, Priester ohne Kirche, schreibe nicht mehr auf einen Ort der Wahrheit hin, kenne auch kein Werk mehr, sondern allenfalls Fragmente – sein Schreiben sei »junk mysticism«, der allenfalls noch beständige Bewegung, aber keine Höhe mehr kenne. Was hier in der spirituellen Literatur vorbereitet wird, so de Certeau, wird die Moderne prägen: die Ortlosigkeit eines sich beständig in die Leere bewegenden Subjekts.

Was aber bleibt vom ›Aufstieg‹? Zumindest die Berge. Sie ragen weiterhin in die plane Unendlichkeit der Moderne hinein und stiften dort Faszination wie Unruhe, sie erweisen sich weiterhin als Orte, an denen das spezifisch Spirituelle weiterlebt. Noch dem modernen Alpinismus haftet etwas von der Rhetorik der Grenzsituation an, vom Ringen mit dem Unbedingten. An den Bergen und insbesondere an den heiligen Bergen überschneiden sich denn auch verschiedene Forschungsinteressen, die am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung schon seit langem gepflegt werden: die Frage nach den kulturellen Topographien, das heißt nach der Ordnung des Raumes, und die Frage nach dem Nachleben der Religionen noch in der scheinbar säkularen Welt.

Berge sind kulturell ausgesprochen produktiv; sie bringen Medien, Praktiken und Symboliken hervor, durch die sich mit Bedeutung aufgeladen werden, ohne dadurch freilich ihre Materialität und Festigkeit zu verlieren. Denn was könnte wirklicher, fester, unverrückbarer sein als ein Berg? Die kulturelle Produktion setzt genau an jenem Übergang besonders an, wo Materialität in Sinn übergeht, wo Semantiken in die Wirklichkeit eingeschrieben werden; und solche Transformationen lesbar zu machen, ist eine Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung.

Heilige Berge stehen immer schon an so einem Übergang: auf der Schwelle zwischen Himmel und Erde, Unbedingtem und Bedingtem. Nicht alle Berge sind heilige Berge, aber die Vorstellung ihrer Heiligkeit ist den Bergen auch nicht äußerlich, werden sie doch oft mit Erhabenheit assoziiert, die schon etymologisch mit der ›Erhebung‹ verbunden ist. Eine reiche Kulturgeschichte verbindet den Berg, den Aufstieg und das Heilige und bringt oft komplexe Figurationen und Übergangsfiguren hervor. Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux etwa, die als Schlüsselszene der Emanzipation des modernen Individuums gilt, ist zugleich als Reaktualisierung einer spirituellen Aufstiegstopik zu sehen. Die Wiederentdeckung des Erhabenen im 18. Jahrhundert speist sich aus der neuen Wahrnehmung der Alpen ebenso wie aus der Übertragung einer christlichen Ästhetik. Gerade die Verbindung vom Aufblick zum Gipfel und dem Überblick, der sich dem oben Stehenden gewährt, drückt die Differenz zwischen Menschlichem und Göttlichem aus, die bereits in den klassischen Texten der religiösen Tradition narrativ durchgespielt wird. In der Religionsgeschichte wird diese Konstellation immer wieder im konkreten Sinne relevant: in der besonderen Topographie von Bergheiligtümern und heiligen Bergen (→ Ursula Röper/Martin Treml, Daniel Weidner).

Es ist aber nicht nur die Vermittlung nach ›oben‹, die heilige Berge ermöglichen, diese gliedern auch die Ausdehnung in vielfacher Form. Auch der moderne Raum ist nicht so leer und homogen, wie er oft scheint, am wenigsten an den Rändern der Moderne. Für die Forschungen des ZfL ist es seit langem insbesondere Europas Osten, der einen anderen, differenzierteren und oft überraschenden Blick auf die europäische Moderne erlaubt. In diesem Heft machen einige Beiträge am Kaukasus deutlich, das Berge immer auch geopolitische Markierungen sind, die einen Raum gliedern und ordnen, ihn erzählbar und beherrschbar machen, ihn aber auch als Palimpsest ganz verschiedener Sinnschichten verwandeln (→ Franziska Koch, Giorgi Maisuradze, Emzar Jgerenaia). Berge, und besonders heilige Berge konstituieren eine spezielle ›Grundordnung‹, weil sie politische oder kulturelle Formen mit dem Boden ebenso verbinden wie mit der höheren Legitimation. Leicht werden sie zu mythischen Orten, welche den Raum mit der Urzeit verbinden, auf den die Berge in ihrer Dauerhaftigkeit verweisen.

Aber die den Bergen zugeschriebene Heiligekeit wirkt nicht immer bergend, begründend und stabilisierend; sie kann auch bestehende Ordnungen erschüttern und in Frage stellen. Heilige Berge können auch Schrecken und Grauen auslösen, und vielleicht verbindet sich das Heilige in der Moderne generell eher mit Momenten des Grauens als mit solchen der Sinnstiftung. In der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts jedenfalls werden die Berge oft zu Erinnerungsorten der Katastrophen: sei es explizit, wenn sich die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern mit dem Ararat verbindet – einem gewissermaßen exilierten Berg, der sich nicht mehr auf dem Territorium Armeniens oder der armenischen Exilgemeinde befindet; sei es implizit, wenn die Vorstellung der Schöpfung, des Weltenbergs beschworen wird, um über die Katastrophe der Shoah zu schweigen (→ Aurélia Kalisky, Claude Haas).

Selbst wenn die Moderne nicht mehr im Bild des Aufstiegs gedacht wird, sondern als Weg, als unendliche Aufgabe und Fortschreiten, ragen doch die Berge in ihre Ebene hinein – die alten und die neuen. Sie stehen nicht nur für die Vorgeschichte, die die Moderne nicht hinter sich lassen kann, nicht nur für die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung Europas, gleichsam als räumliche Symbole »alter Zeiten« oder des alten Europas. Das Bild des Berges steht auch für Phantasmen des Abschlusses, der letzten Übersicht, des äußersten Punktes, wie sie z.B. noch die Vorstellung vom Nordpol beeinflussen (→ Susi Frank). Und selbst noch in der permanenten Zirkulation von Zeichen und Waren, als die die Gegenwart gern beschrieben wird – erheben sich wieder Berge: der Schuldenberg als Kehrseite des ›ewigen‹ Wachstums und der Müllberge als jener Haufen, den noch die als Posthistoire verstandene Geschichte hinterlässt (→ Falko Schmieder). Als Allegorie, als anschauliche Gegenbilder machen diese Berge die Moderne von ihrer Kehrseite her lesbar.
Daniel Weidner