Kopf, Schädel, Gesicht
- Das Gesicht als Artefakt. Zu einer Kulturgeschichte des Bildnisses (Sigrid Weigel)
- »Ich bin im Wesentlichen nicht an Physiognomie interessiert.« Frank Auerbachs Porträts und Köpfe (Judith Elisabeth Weiss)
- Die durchbrochene Leinwand. Georges Méliès’ Autoportrait de l’Artiste (Hanns Zischler)
- Gesicht und Totenschädel. Zwei Ansichten im Widerstreit (Hans Belting)
- Untotenköpfe (Thomas Macho)
- Goldene Schnitte? Künstlerische und mathematische Referenzsysteme in der kraniofazialen Chirurgie (Uta Kornmeier)
Aus dem Archiv
- Sprache röntgen, Schädel sehen (Margarete Vöhringer)
- Kopfkleider wie aus Tausendundeiner Nacht (Tatjana Petzer)
Leseprobe
Michel Foucaults Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines aus dem Jahr 1966 ist ein Werk, das trotz der zahlreichen turns der jüngsten Theoriegeschichte seinen Platz als Klassiker der Diskurstheorie über Jahrzehnte behaupten konnte. Es mündet in die Prophezeiung, »dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« Während des beinahe halben Jahrhunderts seit Erscheinen des Buches scheint aus der Foucaultschen Metapher Realität geworden zu sein. Wir sind zwar wie nie zuvor in der Geschichte von Gesichtern umstellt: Gesichter, die uns von Fernseh- oder Computerbildschirmen, von Leinwänden, Plakatwänden und Fassaden, aus den Seiten von Zeitungen und Zeitschriften und aus der allgegenwärtigen Werbung anschauen – die ganze mediale und reale Umgebung ein einziges Facebook. Doch zu gleicher Zeit findet ein stetiges Fading menschlicher Gesichtszüge statt. Dies ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass die Begegnungen in Echtzeit mehr und mehr durch mediale Kommunikationsformen ersetzt werden, sondern es lässt sich auch damit erklären, dass die Gesichter durch die Techniken digitaler Bildbearbeitung, durch Morphing und Simulation modifiziert oder ersetzt, durch die Praktiken des Selbstfashioning, durch Botex, Piercing und Tätowierungen ver- und überformt und durch den rasanten Fortschritt der plastischen Chirurgie umgestaltet werden. In der unendlichen Vervielfältigung und in der medialen, kosmetischen und medizinischen Arbeit verschwindet dasjenige Gesicht, das selbst eine flüchtige Erscheinung mit ständig sich verändernden Zügen ist: das Angesicht des Anderen im Wechselblick.
Wenn die ephemeren Züge im Sand bei Foucault als Bild für das Verschwinden des Menschen stehen, dann nimmt das Gesicht am Ende seines Buches genau jenen Platz ein, den es in der Humanwissenschaft hat: als Stellvertreter des Individuums, ein Pars pro toto des menschlichen Körpers, das als Ausdruck und Ausweis der Person betrachtet wird: physisch-leibliche Metonymie des Menschen als Gattung und auch als Individuum.
Foucaults Vorhersage ist dabei an einen spezifischen historischen Index geknüpft. Er sah zu seiner Zeit fundamentale Dispositionen des Wissens vom Menschen ins Wanken geraten, deren Entstehung er um 1800 datiert. Voraussetzung dieser Datierung ist die Überzeugung, dass der Mensch eine Erfindung sei, »deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt.« Die These von der Erfindung (frz. invention) meint die Entwicklung eines bestimmten Begriffs vom Menschen, der das Ergebnis wissensgeschichtlicher Umbrüche darstellt (wie Foucault an der Entstehung von Biologie, Philologie und politischer Ökonomie zeigt), Umbrüche, welche die Epoche der Humanwissenschaften (mit Psychologie, Ethnologie, Soziologie und anderen Disziplinen) eröffnet haben. In dem Ensemble moderner Humanwissenschaften, zu dem auch das medizinische und ästhetische Wissen gehören, spielt nicht nur das Gesicht eine zentrale Rolle, sondern auch der Kopf bzw. der Schädel. Zwar werden an ihnen nicht erst in der Moderne Merkmale entdeckt, die als Indikatoren für bestimmte Eigenschaften oder Befindlichkeiten betrachtet werden. Doch mit der Entstehung der modernen Humanwissenschaften verbindet sich das Projekt, solche Merkmale mithilfe physiologischen, anthropologischen, sozialen, psychologischen und kriminologischen Wissens in ein System ›exakter‹ Zeichen zu überführen. Gestalt und Größe des Schädels, Zuschnitt und Proportion des Gesichts und seiner Teile wurden zu Parametern in einem System der ›Menschenkunde‹, deren Bilder und Formeln auch in das Alltagswissen und die Kultur eingedrungen sind. Bis in die Gegenwart ist das wissenschaftliche und kulturelle Bild vom Menschen mit Versatzstücken aus Phrenologie und Physiognomie durchsetzt. Als implizites Wissen, das oftmals in unwillkürlicher und unreflektierter Weise zum Zuge kommt, führt die Idee bestehender Zusammenhänge zwischen der äußeren Gestalt und dem inneren Wesen, auch wenn sie wissenschaftlich längst widerlegt sind, ein offensichtlich sehr robustes Fortleben.
Diesem modernen Paradigma von Gesicht und Kopf ist allerdings eine lange Kulturgeschichte ritueller und ästhetischer Praktiken vorausgegangen, in der Gesicht und Kopf nicht minder als Metonymie des Menschen und der Person galten. Bevor Schädel und Gesicht zu den wichtigsten ›Organen‹ des Menschen in den Humanwissenschaften erklärt wurden, galt das Gesicht als Bild des Humanum, sei es als Antlitz, Angesicht oder Porträt. Im Begriff des Bildnisses verdichtet sich diese weit zurückreichende Geschichte: Das Bildnis, d.h. die ähnliche Darstellung oder Nachbildung eines einzelnen, je spezifischen menschlichen Kopfes, gilt darin als das Bild des Menschen. Während die Vorstellungen, Zuschreibungen und Konstruktionen von Gesicht und Kopf in der Moderne der Episteme der Lebenswissenschaften entstammen, ist das Bildnis – als Topos der Person – allerdings aus dem Tode entstanden. Seine Entstehung verdankt sich der Toten-, Begräbnis- und Memorialkultur. Hier spielen Verfahren eine wichtige Rolle, die téchne und poiesis im ursprünglichen Sinne von Handwerk, Kunstfertigkeit und Herstellung waren.
Wenn Gesicht und Schädel heute erneut zum Gegenstand von Herstellung und Formung werden, dann haben sich Begriff und Charakter der Technik dabei allerdings fundamental gewandelt. Diese hat ihren Ort gegenwärtig vorzugsweise in Labors, Kliniken und an Computerarbeitsplätzen. Insofern stellt sich die Frage, ob zusammen mit dem durch Physiognomik, Rassenkunde und andere Deutungsmodelle belasteten Objekten Kopf–Schädel–Gesicht der modernen Wissenschaft auch jenes Gesicht verschwindet, in dem sich das Angesicht des Anderen zeigt.
Sigrid Weigel