Pascal Bruckner: Die Gesellschaft der Opfer. Porträt des Erniedrigten als Held
Verstand sich die Menschheit der Moderne als Eroberer, sieht sie sich heute lieber als Opfer. Das Versprechen einer besseren Welt, frei von Fatalismus und Fanatismus, das Aufklärung und Revolution einst gegeben haben, ist einer sich selbst bemitleidenden Gesellschaft gewichen. Die Größe der Zivilisation zeigt sich darin, dass sie sich um die Gedemütigten und Zukurzgekommenen sorgt. Die Kehrseite dieses Fortschritts jedoch ist, dass, wer sich als Opfer zu Wort meldet, andere damit erpressen kann: eine Pathologie der Anerkennung. Ausgerechnet im hedonistischen Westen hat das Leiden eine neue Heiligkeit erlangt, es ist zu einem Haupt der Medusa geworden, dessen Anblick einen erstarren lässt. Jeder, ob reich oder arm, Mann oder Frau, trägt seine Benachteiligung wie ein Patent zur Schau, um sich über seine Mitmenschen zu erheben. Dieser verbitterte Schmerzenskult lässt die Figur des Märtyrers wiederaufleben und nährt die beiden großen Leidenschaften des Grolls und der Rache. Auch die Glücklichen und Mächtigen wollen zur Aristokratie der Ausgegrenzten gehören – auf Kosten der wirklich Unglücklichen.