Pictogrammatica
Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900-1938)
Die visuelle Wahrnehmung unserer Umwelt ist längst eine von Medien gesteuerte Inszenierung des Sehens. Täglich bewegen wir uns in einem televisionell oder virtuell vorgeformten Paralleluniversum. Heutige Großstädte sind eine Welt voller Bilder, Codes und Zeichen. Dieselben Piktogramme und Logos dirigieren weltweit unsere Orientierung auf Flughäfen, Bahnhöfen, Autobahnen und in fremden Städten. Die gleichen Labels weltweit operierender Unternehmen signalisieren allgegenwärtige Anwesenheit. Eine pikturale Grammatik zur Entschlüsselung dieser globalisierten Erfahrungswelt indes indes steht nicht zur Verfügung.
Anders im frühen 20. Jahrhundert, als diese Entwicklung begann. In den Bild-Schrift-Experimenten der Medienavantgardisten ging es um die Erfindung universeller Bildalphabete, die kulturelle und geografische Grenzen zu überwinden erlaubten. Es ging zum einen um die Verabschiedung der Bildungsprivilegien des Gutenberg-Zeitalters, die an die Nationalsprachen und deren buchstäbliche Notationssysteme gebunden sind, zum anderen um den Einsatz der neuen fotochemischen, typo- und filmografischen Techniken, die solche universale Lesbarkeit erst ermöglichten. Und es ging um nichts weniger als um das Bewußtmachen eingeschliffener, nicht mehr hinterfragter Wahrnehmungsmuster, wie wir sie heute – umgekehrt – in den pictoralisierten Konventionen unseres Lebensalltags vorfinden. Die Medienavantgardisten probierten ihre ‚Pictogrammatica‘ in vielfätigen Formen aus: in dadaistischen Buchstaben- und futuristischen Bildgedichten, in kubofuturitischen Passagen zwischen Wort und Bild, surrealistischen Traumbildcollagen, in der forcierten Schrift-Bildlichkeit des konstruktivistischen Plakats, in der Befreiung von den bleiernen Lettern des Buchdrucks, in den bewegten Schrift-Bildern der Stummfilme, im Medium der Ausstellung und in den Labors der Kunstwerkstätten. Die Orte dieser Experimente sind über Europa verteilt: In diesem Band sind es Moskau, Paris, Tiflis, Prag, Zürich, Rom, Berlin – und New York: Modell für die Metropolen des 20. Jahrhunderts, Stadt des Exils für europäische Avantgardisten und Startplatz der Neoavantgarde.