Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Anderswo. Deutschsprachige Geisteswissenschaften

Trajekte 23
Berlin 2011, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036
  • Der kulturelle Index von Freuds Traumdeutung (Stephane Mosès)
  • Für eine Theorie der Selbstübersetzung. Ausgehend von Hannah Arendt (Sigrid Weigel)
  • Begriffswechsel. Deutsch-Japanische Anfänge der Phänomenologie (Birgit Griesecke)
  • Verspätete Wirkung. Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichte international (Ernst Müller)
  • Die Subversion der Reformation der Revolution. Jacob Taubes' Bemerkungen zur Kleinschreibung (Herbert Kopp-Oberstebrink)
  • Ansichten zum Linguistic Turn (Geoffrey Hartman)
  • "... fortfahren, als wäre nichts geschehen." Ernst Blochs Utopien im Exil (Falko Schmieder)
  • Who is Max Kade? Transatlantisches Mäzenatentum zwischen Person und Chiffre (Mona Körte)
  • 'Das gewisse Etwas'. Zu den Bildern des Romanisten Traugott Fuchs (1906–1997) (Dirk Naguschewski)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Die aktuelle Kontroverse über den Gebrauch des Deutschen oder Englischen in den Wissenschaften – in Publikationen, bei Tagungen, in der Forschung – betrifft die Geistes- und Kulturwissenschaften im Kern. Dies nicht nur wegen des überwiegend sprachlichen Charakters ihrer Gegenstände, sondern auch weil ihre Begriffe, Methoden und Denkstile nicht von der Sprache zu lösen sind. Dabei droht das Pro und Contra derzeit im unüberwindlichen Gegensatz zwischen Globalisierung und Traditions-Bewahrung zu erstarren. Um die Debatte, die nicht frei ist von den Fallen nationalistischer Argumente, zu öffnen, ist es ratsam, eine wissenschafts- und kulturgeschichtliche Basis für den aktuellen Streit zu gewinnen. Da ja keineswegs alles bewahrenswert oder unverzichtbar ist, was die deutsche Wissenschaft(ssprache) hervorgebracht hat, geht es zuvörderst um die Frage: Welche spezifischen Erkenntnisweisen und welche historischen, hermeneutischen, philologischen, begriffsgeschichtlichen, bildwissenschaftlichen Theorien sind es denn, die mit dem Verzicht auf das Deutsche als Wissenschaftssprache verloren gehen? Welches also ist das epistemologische Potenzial aus der Wissenschaftsgeschichte der deutschen Geisteswissenschaften, das in der künftigen, zunehmend internationalisierten Forschungslandschaft nicht ohne Not verschwinden sollte? Erst mit einer solchen Fragestellung kann der aktuelle Sprachenstreit auf die Füße gestellt werden. Der künftige Ort der deutschen Wissenschaftssprache kann nur vor dem Hintergrund der Geschichte deutschsprachiger Geisteswissenschaften in der internationalen Wissenschaft bestimmt werden.
Seit dem 19. Jahrhundert haben Geisteswissenschaftler, die an deutschsprachigen Universitäten promoviert hatten, bei der Gründung nicht weniger Fakultäten und Institute im Ausland eine prägende Rolle gespielt. Und in etlichen Fächern und Forschungsgebieten (wie Philologie, Orientwissenschaft, Renaissanceforschung, Kunstgeschichte u.a.) haben deutschsprachige Wissenschaftler mit ihren Arbeiten einflussreiche methodische und begriffliche Grundlagen gelegt – mit dem Effekt, dass eine durch das Deutsche geprägte Terminologie in diesen Fächern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein international verbreitet war. Diese internationale Stellung war bei einzelnen Wissenschaftlern mit sehr unterschiedlichen Haltungen, Absichten und Programmen verbunden – sei es Sendungsbewusstsein, nationalistische Überheblichkeit, Kulturhegemonie, oder auch Neugier und Kosmopolitismus. Ein wichtiger Gradmesser ist dafür die Frage, inwieweit die Tätigkeit deutschsprachiger Wissenschaftler in einem anderssprachigen, fremdkulturellen Umfeld den Blick und das Verständnis für andere Denkweisen schärft oder verstellt. In welcher Weise findet die wissenschaftliche Arbeit im internationalen Umfeld im eigenen Forschen und Schreiben ihren Niederschlag? Welche Spuren oder welches Echo hinterlässt das fremdsprachige wissenschaftliche Idiom im Denken und in den Schriften?
Die internationale Wirkung deutschsprachiger Geisteswissenschaften ist strukturell und historisch durch den Widerstreit zwischen erkenntnistheoretischen Möglichkeiten einerseits und nationalkulturellen Befangenheiten andererseits gekennzeichnet. Während im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts die deutsche Wissenschaft aufgrund der nationalistischen Verengung und der Anpassung an die völkische Ideologie des Nationalsozialismus international ins Abseits geriet, hat die Emigration jüdischer Wissenschaftler andererseits zur Folge gehabt, dass etliche deutschsprachige Denkschulen in den Exilländern (etwa USA, Türkei) eine den Fachdiskurs teils bis in die Gegenwart hinein prägende Wirkung entfaltet haben.
Seit längerem schwindet diese internationale Stellung im Zuge der Globalisierung wissenschaftlicher Diskurse, so wie das Deutsche zunehmend durch ein globales Wissenschaftsenglisch ersetzt wird. Im Gegensatz dazu lässt sich jüngst jedoch vielerorts ein lebhaftes Interesse an einzelnen deutschsprachigen Denkstilen, insbesondere säkularer jüdischer Intellektueller (wie Warburg, Benjamin, Cassirer, Auerbach, Arendt), und an bestimmten Ansätzen (wie der Begriffsgeschichte Kosellecks und Blumenbergs) verzeichnen, – woraus nicht nur verstärkt größere Übersetzungsvorhaben erwachsen, sondern auch eine erneute Attraktivität spezifischer epistemischer Dimensionen deutschsprachiger Terminologie.
Geht es um die Frage der epistemischen Dimension der deutschen Wissenschaftssprache, so stehen damit diejenigen Eigenheiten einer Sprache zur Diskussion, die das Denken und Wissen prägen, und damit die Beziehung zwischen Epistemologie, Sprache und Kultur. Dabei gilt im Falle des Deutschen auch für die Sprache jene Verspätung, die in der Formel von der 'verspäteten Nation' (Plessner) zum Ausdruck kommt. Da das Deutsche sich spät zu einer einheitlichen Sprache ausgebildet hat, ist es sowohl durch Instabilität als auch durch Offenheit gekennzeichnet; nicht nur in der Durchdringung von Alltags-, Literatur- und Wissenschaftssprache, sondern auch in der Beziehung zu benachbarten Sprachen. Die ambivalenten Implikationen dieser Besonderheit hat Adorno präzise beschrieben: hier das erkenntnistheoretische und poietische Potenzial der Arbeit an/mit einer 'unfertigen' Sprache, dort das zwanghafte Bestreben zur Homogenisierung eines nationalen Idioms, das in der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus seinen fundamentalsten Ausdruck gefunden hat.
Die hier skizzierte, spannungsreiche Geschichte bildet den Horizont, vor dem die aktuelle Debatte über das Deutsche als Wissenschaftssprache und die Kontroverse über muttersprachige vs. englischsprachige Wissenschaftskommunikation erst ihre Grundlage erhält: durch ein Wissen über den erkenntnistheoretischen und methodischen Eigensinn, der mit einem Verzicht auf die Nutzung der eigenen Sprache zur Disposition steht.
Sigrid Weigel