Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Heft 10

Trajekte 10
Berlin 2005, 52 Seiten
  • An-Archive: Archivtheoretisches zu Hinterlassenschaften und Nachlässen (Sigrid Weigel)
  • TAUBES
    Aus einem Non-Lieux des Archivs: Jacob Taubes an Aharon Agus, Berlin 11. November 1981
  • Ingeborg Bachmanns Geist trifft die Geister der Kabbala: Jacob Taubes’ Liebesmystik
    (Kommentar von Sigrid Weigel)
  • BING
    Aus einem Espace Autre des Archivs: Gertrud Bing an die Cassirers, Florenz 1. Juni 1929
  • Getrud Bing – ein intellektuelles Porträt (Kommentar von Thomas Meyer und Martin Treml)
  • AUERBACH
    Aus einem zerstreuten Archiv: Erich Auerbach an Fritz Saxl, Siena und Marburg im Jahre 1935
  • Erich Auerbach und die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Geschichten einer verhinderten Zusammenarbeit (Kommentar von Martin Treml)
  • BLANCHOT
    Aus dem Übersetzer-Archiv: Maurice Blanchot an Johannes Hübner, Paris, April und Mai 1969
  • Schreiben wie Träumen. Blanchots Alternativen zur ‚littérature engagée’ (Kommentar von Karlheinz Barck)
  • HAUSMANN
    Aus dem surrealistischen Archiv. Raoul Hausmann an Erich Auerbach, Berlin 1932
  • “Aussicht auf den Kapitalismus ist kaum vorhanden“. Ein Erbstreit aus dem Hause Hausmann-Auerbach-Mankiewitz (Kommentar von Stefan Willer)
  • SCHMIDT / PYRITZ
    Über Ausgänge aus dem Archiv: Wieland Schmidt an Hans Pyritz, Grunewald, 13. Juni 1932
  • Der Marder der Preußischen Staatsbibliothek (Kommentar von Petra Boden)
  • HAVEMANN
    Aus einem Nebenarchiv: Ein Rundfunkbeitrag von Robert Havemann, RIAS 1946, Sendereihe ‚Das heimliche Deutschland’: Bedeutung und Wesen der deutschen Widerstandsbewegung
  • Widerstand und Archive. Das Beispiel Robert Havemann (Kommentar von Susan Arndt)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

Diese zehnte Nummer der Trajekte fällt aus dem Rahmen der bisherigen Gestaltung, – im buchstäblichen Sinne. Die regelmäßige Rubrik „Aus dem Archiv“ hat sich über das gesamte Heft hin ausgedehnt. Zu zahlreich waren die Funde, die sich angesammelten hatten und gleichsam Schlange standen, um in der Rubrik „Aus dem Archiv“ vorgestellt und kommentiert zu werden. Zudem ergaben sich Verdichtungen und Verbindungen – Trajekte – zwischen den einzelnen Zeugnissen, die bei einer seriellen Publikation in den folgenden Heften in den Hintergrund hätten treten müssen.

Zwar ist das Netz, das zwischen den abgedruckten Briefen erkennbar wird, nicht ganz zufällig zustande gekommen, da es sich aus den Forschungsschwerpunkten des ZfL erklärt. Doch sind die vielfältigen Korrespondenzen, die sich zwischen den Zeugnissen auftun, nicht das Resultat einer systematischen Recherche, sondern Archiv-Effekte. Denn die Funde entstammen einzelnen, durchaus unterschiedlichen Recherchen: den Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft (Petra Boden), den Recherchen im Umfeld des Surrealismus in Deutschland (Karlheinz Barck), den Arbeiten an einer Cassirer-Biographie (Thomas Meyer), den Recherchen im Warburg Institute in London (Martin Treml), der Sorge um den Nachlass von Jacob Taubes (Martin Treml), die sich aus den Bemühungen um eine Susan Taubes Edition heraus entwickelt hat, und der Beschäftigung mit Nachlässen in der Folge der Stasi-Archive jenseits der Gauck-Behörde (Susan Arndt).

Die Trajekte zwischen den hier abgedruckten Funden betreffen folgende Korrespondenzen: Ein im Umfeld des Cassierer-Nachlasses aufgefundener Geständnisbrief von Gertrud Bing aus dem Jahre 1929, dem Todesjahr Warburgs, an das Ehepaar Cassirer spricht auch von Fritz Saxl, der wiederum Adressat von einigen Briefen Erich Auerbachs aus dem Jahre 1935 ist, die im Warburg Institute gefunden wurden. In ihnen bittet Auerbach Saxl beim Versuch, Deutschland zu verlassen um Hilfe. Auerbach ist zugleich Adressat eines Briefes von Raoul Hausmann, seinem Schwager, aus dem Jahre 1932, in dem es um Familien-Erbstreitigkeiten geht.

Im gleichen Jahr schrieb Wieland Schmidt einen Brief an seinen Kollegen Hans Pyritz, in dem er von dem Fall eines Bücherdiebstahls aus der Berliner Staatsbibliothek berichtet. Dieses Vergehen wurde von den bald dafür zuständigen NS-Behörden erstaunlich milde behandelt und das Verfahren 1936 abgeschlossen; zu einer Zeit, als Erich Auerbach bereits von seinem Universitätsamt suspendiert war und sich, nachdem seine Bemühungen, durch die Hilfe der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg nach England zu kommen, gescheitert waren, um einem anderen Exilort bemühen musste. Bei Recherchen zum deutschen Surrealismus ist der genannte Brief von Hausmann an ihn ist aufgetaucht, in deren Zusammenhang auch die Briefe von Maurice Blanchot aus dem Jahre 1969 an seinen deutschen Übersetzer Johannes Hübner, einem Akteur des Berliner Surrealismus, gefunden wurden. Blanchots Überlegungen in diesen Briefen stehen im Zusammenhang eines europäischen Zeitschriftenprojekts Anfang der 60er Jahre, an dem Schriftsteller aus Italien, Frankreich und Deutschland beteiligt waren, unter ihnen auch die Österreicherin Ingeborg Bachmann, deren Engagement für dieses Projekt in die Zeit ihres Berlinaufenthaltes fiel. In dieser Zeit begann auch ihre Liaison mit Jacob Taubes, von der dessen Brief an einen Rabbiner-Freund in Israel aus dem Jahre 1981 erzählt. Und Berlin ist auch der Ort, an dem sich das Havemann-Archiv befindet, in dem das Manuskript seiner Rundfunkrede aus dem Jahre 1946 stammt, das hier abgedruckt wird.

Den Horizont, vor dem diese einzelnen Funde nicht nur einen kultur- und wissenschaftshistorischen Zusammenhang bilden, sondern auch in theoretischer Hinsicht miteinander korrespondieren, bilden die Forschungen des ZfL zur Geschichte der Philologie als Kulturwissenschaft, zur Säkularisierung, zur Wissenschaftsgeschichte und zum Erbe. Am Schnittpunkt dieser Themen stellt sich die Frage nach verschiedenen Konzepten und Kulturtechniken von Überlieferung. Dabei sind Archive sowohl als Gegenstand der Forschung wie auch als Ort von Recherchen relevant. Einen Schwerpunkt für die Literaturforschung bilden dabei Nachlässe und Editionen. Denn die Arbeit an Editionen nimmt im künftigen Forschungsprogramm des ZfL eine nicht unbedeutende Stellung ein. So wird in diesem Jahr mit der Arbeit an einer Edition von Briefen Erich Auerbachs begonnen, dessen Zeugnisse, insbesondere da bisher kein eigentlicher Auerbach-Nachlass existiert, aus den unterschiedlichsten Archiven zusammengestellt werden müssen (Martin Vialon/ Karlheinz Barck). So ist eine Herausgabe von philosophischen, literarischen und biographischen Zeugnissen von Susan Taubes geplant, deren Nachlass die Erben Sigrid Weigel für diesen Zweck übergeben haben (Mitarbeiterin: Christina Pareigis). Und so ist die Konzeption für eine Auswahledition mit Briefen von Jacob Taubes in Arbeit, mit deren Nachlassbetreuung die Erben Martin Treml beauftragt haben (Mitarbeiter: Thorsten Palzhoff). Und schließlich ist eine Studienausgabe mit ausgewählten Schriften von Aby Warburg in Arbeit, die dessen Werk vor allem auch Studierenden zugänglich machen soll (Martin Treml/ Sigrid Weigel). In den weiteren Zusammenhang der Archive des Wissens gehört auch die Konzeption eines Projekts zur erweiterten Begriffgeschichte mit Figuren des Wissens im interdisziplinären Transfer (Ernst Müller). Und schließlich konnte zum thematischen Zusammenhang der Überlieferung im Herbst 2004 das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte im historischen Wandel zwischen Kultur und Natur, das in Kooperation mit dem Historiker Bernhard Jussen (Bielefeld) durchgeführt wird, seine Arbeit aufnehmen (Mitarbeiter: Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer).( Anm. 1)

All diesen Forschungen – und einer Reihe weiterer Projekte – können die Mitarbeiter am ZfL sich nun wieder ausschließlich zuwenden, nachdem ein Jahr mit Anträgen und Begehungen nun mit einer sehr erfolgreichen Evaluierung durch eine Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats (im Januar 2005) zu Ende gegangen ist. Dabei orientiert sich das Forschungsprogramm für die letzten Jahre im Rahmen der derzeitigen institutionellen Vereinbarung und Förderform bereits an der für ein künftiges Zentrum für Literatur- und Kulturforschung entwickelten Perspektive der drei Forschungsschwerpunkten: (1) Europäische Literatur- und Kulturgeschichte, (2) Literaturforschung und Wissen(schaft)sgeschichte, (3) Grundlagen der Literaturwissenschaft/ Literaturforschung als Grundlagenforschung.(Anm. 2)

Es ist uns eine ganz besondere Freude, daß wir die diesjährigen WissensKünste „Zwischen Evolution und Experiment - Schönheit in Kunst und Wissenschaft“ mit einem der aufregendsten Kunstereignisse in diesem Jahr in Berlin abschließen können.

In der von Mies van der Rohe gebauten Neuen Nationalgalerie wird die Künstlerin Vanessa Beecroft ihre bislang größte Performance, VB55, realisieren. Am 8. April 2005 wird sie zentral in der oberen Halle der Neuen Nationalgalerie mit 100 Models in einer dreistündigen Performance ein lebendiges Bild erschaffen, das von den Zuschauern aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann.

Die Performance VB 55 findet in Kooperation mit der Neuen Nationalgalerie Berlin statt. Sie wird ermöglicht durch den Verein der Freunde der Neuen Nationalgalerie.

Zum 100. Geburtstag von Elias Canetti veranstaltet das Zentrum für Literaturforschung gemeinsam mit der Forschungsstelle Kulturtheorie in Konstanz ein Kolloquium mit dem Titel "...nie mit dem sein, das gerade gilt". Leben und Werk Elias Canettis sind von Gegensätzen geprägt. Das Berliner Kolloquium zu Canettis hundertstem Geburtstag möchte diese gegenstrebigen Tendenzen in seinem Werk für die Interpretation fruchtbar machen, indem es die literarischen Texte, das theoretische Werk und die Autobiographie in drei eng verwobenen Sektionen aufeinander bezieht.

Anmerkungen

(1) Interessenten können das Forschungsprogramm in Form eines Preprints vom Zentrum für Literaturforschung anfordern.

(2) Eine Broschüre mit dem Konzept für ein künftiges Zentrum für Literatur und Kulturforschung kann ebenfalls vom Zentrum für Literaturforschung angefordert werden.

Medienecho

20.04.2005
Höllenfahrt

Eine neue Archivphantasie. Rezension von Henning Ritter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.4.2005