Walter Benjamin
- Aus dem Archiv
Fritz Strich to Judah Magnes on Walter Benjamin, March 26, 1928 (Jane Newman) - „Verzettelte Schreiberei“. Walter Benjamins Archiv (Erdmut Wizisla)
- „In einer so wichtigen Sache als die Verwahrung meiner Papiere“. Das Walter Benjamin Archiv
(Ursula Marx) - Bildessay
Die unbekannten Meisterwerke in Benjamins Bildergalerie
(Sigrid Weigel) - Aus der Arbeit des ZfL
Leerstellen der Begriffsgeschichte. Zur Aktualität Benjamins für eine kulturwissenschaftlich erweiterte Begriffsgeschichte
(Falko Schmieder) - Das Überstürzen der Tradition. Das Problem der Lehre in den Debatten zwischen Benjamin und Scholem (Daniel Weidner)
- Über die Pyrenäen. Walter Benjamin in der Literatur seit 1940 (Justus Fetscher)
- Das "Dynamit der Zehntelsekunde". Walter Benjamins Medientheorie als eine Theorie des Blicks (Sabine Flach)
- Korrespondenzen
Re-Präsentation des Verdrängten. Die Kunst als Spiegel des sozial Unbewussten? (Peter Weibel) - Langsamkeit: Benjamin und die Politik der Entschleunigung (Lutz Koepnick)
- Ankündigungen
Now – Das Jetzt der Erkennbarkeit. Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft (Sabine Flach/Sigrid Weigel) - Arbeitstagung: Gesetz der Serie. Zum Verhältnis von Wiederholung und Serie in Biologie, Literatur und Kunst (Christine Blättler)
- Arbeitstagung: Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Künstlerischen Avantgarden, 1910–1930 (Sabine Flach)
Leseprobe
(Walter Benjamin: "Schmetterlingsjagd"
in: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert)
Im 10. Jahr seines Bestehens widmet das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung seine traditionell im Oktober stattfindende größere Jahrestagung, die stets dem Austausch seiner Fragen und Forschungsperspektiven mit der internationalen Forschung dient, nicht einem spezifischen Thema, sondern einem herausragenden Kulturwissenschaftler. Im Rahmen eines Festivals, das das ZfL initiiert hat und in Kooperation mit mehreren kulturellen Einrichtungen Berlins unter dem Titel "NOW – Das Jetzt der Erkennbarkeit. Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft" organisiert (s. die Ankündigung S. 48f.), findet eine internationale Tagung statt. In zwölf Sektionen werden die gegenwärtig brisanten Aspekte von Benjamins Schriften diskutiert. Die Renaissance Benjamins, die im letzten Jahrzehnt zu beobachten ist, stellt sich vor allem als eine Internationalisierung seiner Wirkung dar; sie steht zum Teil unter ganz anderen Vorzeichen als seine hiesige Rezeptionsgeschichte.
Die erste Bekanntschaft der deutschen Öffentlichkeit mit Benjamins Schriften nach 1945 verdankte sich dem Engagement der Freunde, die in Israel und den USA überlebt hatten, vor allem Theodor W. Adornos, Hannah Arendts und Gershom Scholems. Der Anfang der Benjamin-Rezeption nach dem Krieg war insofern mit dem schwierigen Ort jüdischer Intellektueller im Nachkriegsdeutschland verknüpft. Bis zur Studentenbewegung waren sie es, die sein Denken und seine Schriften bekannt machten: Adorno 1950 mit der ersten Buchpublikation der Berliner Kindheit und der Thesen Über den Begriff der Geschichte, 1955 mit der zweibändigen Ausgabe der Schriften und 1966 schließlich mit der zusammen mit Scholem besorgten ersten Briefausgabe, Hannah Arendt mit ihrem einflußreichen Essay von 1968. Die größere Verbreitung aber fanden Benjamins Überlegungen zunächst vielleicht auf indirektem Wege: über die zahlreichen Paraphrasen in der Minima Moralia (1951) und anderen Schriften Adornos, deren Verhältnis zu Benjamins Vorlagen sich in einer schwer entscheidbaren Schwebe zwischen Palimpsest und Vermittlung hält. Zu den Zeitgenossen Benjamins gesellte sich Peter Szondi, der in seiner Antrittsrede 1961 am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin Benjamins Schriften eine programmatische Bedeutung für die Re-Etablierung der deutschen Komparatistik zuschrieb und Scholem mehrfach einlud, um über Benjamin zu sprechen.
Jener Benjamin, der nach 1968 große Popularität erhielt, war ein anderer Benjamin, geprägt vor allem durch den Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Beiträge, die sich in den Kontext marxistischer Theoriebildung einfügen ließen – womit Benjamins Schriften auch Verbindungen zwischen Ost und West herstellten. Dem politischen Kontext in der Frage nach der Aktualität Benjamins und nach dem Strategen im Literaturkampf (so zwei Suhrkamp-Titel aus dem Jahre 1972) entstammte die Kritik an der Publikationspolitik Adornos – ihm gelang es nicht immer, die Vermittlung Benjamins von Modifikationen durch das eigene Denken frei zu halten – und ebenso an der umstrittenen Nachlassverwaltung durch seinen Schüler Rolf Tiedemann. Die Nachwirkungen dieser teils heftig geführten Kontroverse um den 'richtigen Benjamin' sind noch spürbar und leben auch heute hier und dort wieder auf. Erst nach der Publikation des Passagen-Werks (1982), etwa seit Mitte der 1980er Jahre, setzte eine differenziertere und aspektreichere Auseinandersetzung mit dem gesamten Werk Benjamins ein, vor allem mit der Geschichtsphilosophie und der Gedächtnistheorie, mit dem Bildbegriff und der Medientheorie, mit der Ästhetik und Literaturkritik, mit der Kritik der Gewalt, der jüdischen Tradition und seinen Beiträgen zur politischen Theologie. In den jüngsten Jahren deuten Vorhaben wie die Begriffe Benjamins (2000), ein Wörterbuch zu einschlägigen Konzepten wie Allegorie, Aura, Denkbild, Erwachen usw., und das im Druck befindliche Benjamin-Handbuch eine Tendenz zur Kanonisierung an. Zugleich sind Benjamins Bilder, Figuren und Schriften zu einem zentralen und unverzichtbaren Bezugspunkt für die Arbeiten zahlreicher Architekten, Künstler, Theater- und Filmregisseure und für viele Kulturwissenschaftler geworden.
Im Zuge dieser Wirkungsgeschichte ist sein Denken vielleicht zu einem allzu vertrauten Bestandteil der deutschen Kultur- und Philosophiegeschichte geworden – wären da nicht die jüngeren Intellektuellen, die an den teils verfahrenen Kontroversen der 1970er und 80er Jahre nicht teilgenommen haben und sich ihren Benjamin ganz unabhängig davon und manchmal auch ganz neu aneignen, ähnlich wie viele Künstler und Wissenschaftler im Ausland. Insofern wurden das Festival und die Tagung auch mit dem Ziel geplant, die Anregungen und Herausforderungen von Benjamins Denken für die Gegenwart – jenseits der alten, generationsbedingten Debatten – zu organisieren. Dadurch dass die lange Zeit in verschiedenen Archiven zerstreuten Hinterlassenschaften Benjamins nunmehr im Archiv der Akademie der Künste in Berlin versammelt sind, ist Berlin der geeignete Ort, um sich hier und heute mit seinem Denken in einer internationalen Tagung auseinanderzusetzen.
Von denjenigen Kulturwissenschaftlern, die für die Forschungsperspektive des ZfL eine zentrale Rolle spielen – wie etwa Aby Warburg, Erich Auerbach, Ernst Kantorowicz, Hannah Arendt, Michel Foucault, Hans Blumenberg u.a. – kommt Walter Benjamin eine besondere Bedeutung zu: als Kulturwissenschaftler, dessen Arbeit jenseits der Trennung von Bild und Text, von Kunst und Wissenschaft, von Tradition und Moderne "im Geiste wahrer Philologie" gründet. Seine Aufmerksamkeit für das Entspringen kulturgeschichtlicher Phänomene ist nicht unwesentlich aus dem Umgang mit Figuren des Wissens in der Literatur entstanden. Daraus hat er eine Lektüreweise entwickelt, die den konventionalisierten Begriffen und Zeichen auf den Grund geht und dabei die ihnen vorausgegangene Bildlichkeit und Ähnlichkeit in den Blick nimmt. Kein anderer bietet mit seinen Schriften derart viele Anregungen und Anknüpfungspunkte für eine gegenwärtige interdisziplinäre Arbeit.
Da ist zunächst der Germanist und Philologe, der seine spezifische Lektüre- und Erkenntnisweise an klassischen Texten der deutschen Literaturgeschichte (Schlegel, Goethe, Hölderlin, das barocke Trauerspiel, Hebbel u.a.) entwickelt, sich mit zeitgenössischen Schriftstellern (wie Kafka, Kraus, Kracauer u.a.) sowie den Avantgardebewegungen seiner Zeit auseinandergesetzt und grundlegende theoretische Überlegungen zur Anthropologie, zur Sprachtheorie und zur Übersetzung, zum Erzählen, zum Tragischen etc. vorgelegt hat. Als säkularer jüdischer Intellektueller im Berlin um 1900 aufgewachsen, war sein Denken von Anfang an in eine Dialektik der Säkularisierung eingebunden, aus der heraus er bis heute gültige Beiträge zu einer Theorie der Moderne, zur politischen Theologie und zur Geschichtstheorie erarbeitet hat. Dann ist da der Medientheoretiker und -historiker, der aus der Geschichte von Photographie und Film eine in Technik und Aisthesis gegründete Betrachtung von Bildern in der Korrespondenz von Vergangenem und Jetztzeit praktiziert hat und der nicht müde wurde, gegen die "Grenzwächter" der Künste und Disziplinen zu polemisieren. Aus der Lektüre vormoderner Texte hat er eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise gewonnen, die für die Analyse anderer, nicht-geschriebener kultureller Phänomene der Moderne – wie Gebärden, Architektur, Stadttopographien, Mode, Karikaturen u.a. – geeignet ist. Und mit seinem Plädoyer, die "Schranke zwischen Schrift und Bild" zu überwinden, kann er als Vorläufer einer interdisziplinären Bildwissenschaft gelten.
Sigrid Weigel
Editorische Notiz
In den in diesem Heft versammelten Beiträgen wird Benjamin – sofern nicht anders angegeben – unter Angabe von Siglen mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl wiedergegeben:
GB = Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. 6 Bde. Hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1995-2000.
GS = Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1972-1989.