Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Ausdruck, Erscheinung, Affekte

Trajekte 17
Berlin 2008, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036
  • Anna Altschuk (1955-2008) zum Gedenken
  • משל - eine hebräische Poetik des Ausdrucks (Daniel Weidner)
  • Kurvendiskussion: Ausdruck, Dynamik und musikalische Bewegung nach 1900
    (Tobias Robert Klein)
  • Biologische Ästhetik.
    (A)Symmetrie und (Un)Sichtbarkeit im Erscheinen des Bauplans
    (Peter Berz)
  • Bildessay
    Unmasking the Facial Action Coding System. Wissensformen facialer Ausdrucksgebärden zwischen Messung und Schauspiel (Sigrid Weigel)
  • Jahrestagung
    Kultur der Evolution. Rethinking evolutionary theoryfrom the perspective of cultural studies
  • Sichtbar sein. Materialität und Facialität frühneuzeitlicher Porträts (Jeanette Kohl)
  • Vererbung, Nervosität, Psychopathologie des Alltagslebens. Jacques-Joseph Moreau de Tours' vergessener Text "Un Chapitre oublié de la pathologie mentale"
    (Gerhard Scharbert)
  • "Talent der illegitimen Freude". Zur Affektordnung des georgischen Festes (Zaal Andronikashvili)
  • Prekäre Übererfüllung. Emir Kusturicas Inszenierungen des serbischen Nationalismus
    (Miranda Jakiša)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Die meisten Manifestationen und Formen des Ausdrucks operieren an der Schwelle zwischen Physiologie und symbolischen Systemen, von Körper und Bedeutung, von Akustik und Semantik. Ob Gesichtsausdruck, Gebärde oder Tanz, ob gesprochene oder musikalische Phrase, stimmliche Intonation der Rede oder Schrift: Stets wird leiblich-materiell etwas zum Ausdruck gebracht, dessen Bedeutung zu einem nicht unerheblichen Teil durch Kult, Habitus und Überlieferung geprägt ist und durch die Brille symbolischer Konventionen 'gelesen' wird. Ausdruck, das heißt: Stimme, Atem, Nerven, Gesten, Gangart usf. gleichsam im Stoffwechsel mit der kulturellen Umgebung. Doch die Wissenschaft vom Ausdruck wird bislang weitgehend vom Gegensatz der 'zwei Kulturen' beherrscht und begrenzt: dort die Erforschung der neuronalen, anatomischen und evolutionsbiologischen Grundlagen des Ausdrucks, hier das Studium der kulturellen Semantik von Ausdrucksgebärden, der Rhetorik und der nach Kulturen und Epochen ausdifferenzierten 'Sprache' der Künste. Sprache ist hierbei im weiteren Sinne zu verstehen: als System von Regeln, Materialien und Konventionen, mit denen Bedeutungen produziert wird.

Walter Benjamin hat die Schwelle als Schulfall des dialektischen Denkens verstanden, weil nur von einer Position auf der Schwelle beide ansonsten getrennten, gegeneinander abgesperrten Räume zugänglich sind, weil nur dort das Licht von beiden Seiten auf die Szene fällt. Wie sähe nun eine Theorie des Ausdrucks aus, die das biologische und medizinische Wissen vom Ausdruck mit dem Wissen über die Zeichen und aisthetischen Regeln des Ausdrucks verknüpft? Wie sähe – anders gesagt – eine physiologische Semiotik aus, deren Zeichenbegriff vom historischen Wissen der Kulturwissenschaften profitiert und doch zugleich auf der Höhe der aktuellen Neuro- und Biowissenschaften argumentiert?

Ein Gedankenexperiment, in dem die beiden Sichtweisen verbunden werden, findet sich schon in Ewald Herings Beitrag Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie (1870), in dem er sich vorstellt, sowohl die Position des Psychologen einzunehmen, der die Nerventätigkeit als Grundlage der menschlichen Äußerungen untersucht, als auch die Position desjenigen, der die Klänge und Töne studiert, die aus dem Mund des Subjekts kommen und als Sprache oder Musik in Erscheinung treten. In erkenntnistheoretischer Hinsicht hat dagegen Sigmund Freud in seinem Fragment gebliebenen Entwurf zur Psychologie (1895), der dem Projekt einer „naturwissenschaftlichen Theorie des Gedächtnisses auf neuronaler Grundlage“ gewidmet ist, die Schwelle zwischen den Methoden der Neuro- und Biowissenschaften einerseits und den Fragen der Bedeutungswissenschaften andererseits eingekreist: als Übergang und Inkompatibilität zwischen dem 'quantitativen Paradigma' der Neurologie und dem 'qualitativen' Aspekt der Bedeutung von Erregungen und Affekten. Irgendwo auf dem Wege zwischen physiologischen Prozessen, neuronalen Aktivitätsmustern bzw. Erregungsmustern, Empfindungen, distinkten Gefühlen und Gedanken sowie den Äußerungen des Subjekts findet der Übergang zwischen Messbarem und Bedeutung statt. Der Traum, Licht ins Dunkel dieser Black box zu bringen, ist ein starker Motor wissenschaftlicher Neugier, bis hin zu dem Projekt, die Träume zu visualisieren, indem man das Hirn schlafender Probanden mit Hilfe bildgebender Verfahren 'durchleuchtet'. Was man zu sehen bekommt, sind neuronale Erregungs- und Aktivitätsmuster, doch um die Traumbilder und -geschichten zu erfahren, wird man auch weiterhin auf die Erzählungen der Träumenden angewiesen sein. Diese Einsicht war vor mehr als einem Jahrhundert für Sigmund Freud das Motiv, seinen Ort zu wechseln und den Erzählungen seiner Patienten zuzuhören. Wenn die Neurowissenschaften gegenwärtig die Psychoanalyse, den Traum und das Unbewusste wiederentdecken, wird der Erfolg dieses Unternehmens davon abhängen, welche Rolle dabei die erkenntnistheoretische Arbeit am Übergang zwischen neuronalem und semantischem Paradigma spielen wird.

Die Affekte sind für die Versuche, die Episteme empirischer und hermeneutischer Methoden und Disziplinen gerade aufgrund ihrer verschiedenen Betrachtungsweisen und Geltungsbereiche zu verknüpfen, von besonderem Interesse. Denn sie sind nicht nur Gegenstand naturwissenschaftlichen und biomedizinischen Experimentalwissens und haben – als Emotionen oder Gefühle – derzeit in Neurowissenschaft und Hirnforschung Konjunktur. Auch für die Geisteswissenschaften gehören die Affekte zu ihren angestammten Gegenständen, so wenn sie die historisch spezifischen Ausprägungen der Affektmodulierungen in verschiedenen Praktiken, Künsten und Kulturen untersuchen. Zudem bildet der Affekt seit Aristoteles' Poetologie einen Kernbegriff rezeptionsästhetischer Theoriebildung und Kunsttheorie: Unlust und Lust, Mitleid und Furcht als Movens des Dramas und anderer performativer Künste; während die Figur der compassio, des Mitleidens mit dem Opfer, die christlich-abendländische Gefühlskultur und Bildästhetik grundiert. Werden die Affekte einerseits als Motiv, Ursache und Auslöser des Ausdrucks betrachtet, so bildet der Katalog spezifischer und unterschiedlicher Affekte – Freude, Ärger, Angst, Trauer, Überraschung, Ekel usw. – zugleich eine anthropologische Grundlage der Kultur. Die sprachliche Distinktion unterschiedlicher Affekte und historisch verschiedener Affektkulturen – mit Leitkonzepten wie Pathos in der Antike, Passion in Mittelalter und Renaissance, Sensibilité/ Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert, Reizbarkeit/ Nervosität um 1900 (um nur einige grobe kulturgeschichtliche Differenzen zu vergegenwärtigen) – korrespondieren mit unterschiedlichen Körper-/Lebenskonzepten und ästhetischen Konventionen. Und unterschiedliche Affektordnungen, d.h. verschiedene Praktiken im Umgang mit Trauer und Freude, insbesondere die Regelungen öffentlicher oder privater/ stiller Ausdrucksformen von Gefühlen, verschiedene Konventionen im Umgang mit Aggression und Feindschaft, unterschiedliche Gast- und Festrituale haben einen wichtigen Anteil an der Differenz der Kulturen, oft diesseits und unterhalb jener nationalen und sprachlichen Besonderheiten, die von den traditionellen Geisteswissenschaften untersucht wurden. Der cultural turn hat hier den Blick für die Vielfalt und Bedeutung von Affektordnungen geschärft.

Weil am Ausdruck stets physiologische Aspekte und die Sinne beteiligt sind, unterhalten Untersuchungen zum Ausdruck im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften – im Unterschied etwa zu Repräsentationstheorie, Bildwissenschaft, Mediengeschichte und der Geschichte von Kulturtechniken – eine größere Nähe zur Anthropologie und stehen insofern oft in einer je unterschiedlichen Beziehung zur Naturgeschichte. Dabei werden die sogenannten natürlichen oder auch biologischen Anteile des Ausdrucks gern und oft mit dem Paradigma des Vorsprachlichen oder Nonverbalen verbunden, z.B. mit unartikulierten Lauten, Seufzern und Schreien, mit Rhythmus, Gesichtsausdruck und unwillkürlichen Äußerungen wie Zittern und Weinen. Es ist naheliegend, dass für solche Modelle Rhythmus, Musik, Tanz und Stimme stets von besonderem Interesse sind, so dass der Zusammenhang biologischer und kultureller Ausdrucksformen in der Musikgeschichte seit langem eine prominente Rolle spielt.

Die Sprache erscheint erst als eine Art Eintrittstor zur Kultur, weil mit ihr Gesetze und Codierungen, Formgebung, Gestalt und Struktur auftreten. Diese konstituieren soziale Konventionen ebenso wie sie subjektive Ausprägungen im Umgang damit ermöglichen, d.h. Differenzierungen, Variationen, Interventionen und Inventionen. Die natürlichen oder kreatürlichen Anteile des Ausdrucks werden zumeist genealogisch an den Anfang oder Ursprung versetzt, sei es in ontogenetischer Perspektive in die Kindheit, sei es in phylogenetischer Perspektive an den Ursprung der Gattung, wo dann die Verwandtschaft zwischen Menschen und Tier und die Universalien-Frage ins Spiel kommt. Diese naturgeschichtliche Betrachtungsweise tritt dabei in Konkurrenz zu mythischen, sprach- und religionsgeschichtlichen Narrativen, in denen der Ursprung bereits anderweitig besetzt ist. Herder ist hierfür eine interessante Übergangsfigur, weil er in seinen genealogischen Theoremen sowohl auf kreatürliche als auch auf biblische bzw. religionsgeschichtliche Ursprungsphänomene rekurriert.

Diese Konkurrenz betrifft auch zentrale Begriffe des Ausdrucks wie etwa den der Erscheinung, weil die Deutungshoheit darüber von der Religion beispielsweise über die Künste in die Naturwissenschaft gewandert ist. Während Erscheinungen, die Schauplätze und Medien des Erscheinens und Inerscheinungtretens lange Zeit von theologischen Diskursen dominiert waren, bevor die Künste zu den herausragenden Akteuren und Experten von Visualisierung, Bildwerdung und Erscheinung und daran anschließenden Theoriebildung wurden, spielen in der Naturgeschichte Aspekte wie Erscheinung, Gestalt und Morphologie für die Klassifikation der Arten eine wichtige Rolle. Im Anschluss daran hat sich das Feld einer biologischen Ästhetik entwickelt, die in der Biologiegeschichte zwar ein Schattendasein geführt hat, heute aber von der Kulturwissenschaft wiederentdeckt wird.

Das Gesicht ist als einer der wichtigsten Schauplätze, auf dem Gefühle zum Ausdruck gebracht werden bzw. in Erscheinung treten, ein Streitobjekt sehr unterschiedlicher Deutungsmuster. Als Antlitz beansprucht das menschliche Gesicht eine Exklusivität, die es von der Naturgeschichte und kreatürlichen Welt abhebt, während die Rede von Ausdruckgebärden des Gesichts die facialen Expressionen des Menschen eher als Komponente naturgeschichtlicher Entwicklungen betrachtet. So ist die Kunstgeschichte zwar eher mit dem Antlitz befasst, wobei die Nähe zwischen Porträt und göttlichem Antlitz eine sakrale Dimension ins Spiel bringt, doch berührt sie auch und gerade dort das Moment der Vergänglich- und Kreatürlichkeit, wie insbesondere am Beispiel der Totenmaske deutlich wird. Dagegen hat Darwin mit seinem Buch The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) die Ausdrucksgebärden gleichermaßen für Tier und Mensch reklamiert. Im Anschluss daran stellt sich die Disziplin der "Facial Expression" heute als ein Feld überwiegend empirischer Forschung auf biowissenschaftlicher Grundlage dar, wobei die Rolle der Medien und Bilder, der Sprache und Deutung zunehmend hinter die Instrumentarien zurücktritt und in Vergessenheit gerät.

Sigrid Weigel