Zentrum für Literaturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 4

Trajekte 4
Berlin 2002, 40 Seiten
  • Aus dem Archiv
    Die Russische Akademie der künstlerischen Wissenschaften als europäischer Inkubationsort für Psychophysik (Karlheinz Barck)
  • Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst (Wassily Kandinsky)
  • Bildessay
    Is Homo Sapiens Exclusive? (Anthony Aziz & Sammy Cucher)
  • Korrespondenzen
    Thermodynamik und Guerilla. Zur Methode von Michel Foucaults 'Archäologie des Wissens' (Wolf Kittler)
  • WissensKünste
    Catherine Wagner's Laboratories (William H. Gass)
  • Science in Context. Philosophical Reflections on Laboratory Science (Helen E. Longino)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Tableaus der Wissenskultur: Der Forschungsschwerpunkt II (Bernhard Dotzler)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

Längst hat es sich für diejenigen Wissenschaften, die sich der Untersuchung von Kultur, Geschichte und Erfahrung, von Schriften, Zeichen und Bildern widmen, als Bärendienst erwiesen, daß sie in den Stand einer eigenständigen Wissenschaftsklasse erhoben wurden, als Dilthey sie als Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüberstellte. Denn entgegen seiner Absicht fiel den Geisteswissenschaften durch ihre Festlegung auf die Kunst des Verstehens in Opposition zum Erklären (mit dem daran anschließenden Topos der „exakten“ Wissenschaften) schon bald die Rolle des untergeordneten Parts zu. Gegenwärtig nun erweist sich die ihnen vorbehaltene Position als eine im buchstäblichen Sinne minderbemittelte. Nicht nur, daß die Mittel für die Geisteswissenschaften immer geringer werden. Schwerer noch und vermutlich bedrohlicher für ihren Fortbestand wirkt sich die Tatsache aus, daß alle angestrengten „Reformen“ im Hochschulbereich allein an den Notwendigkeiten und Gepflogenheiten der Natur- und Technikwissenschaften ausgerichtet werden. Da aber die Forschung in den Geisteswissenschaften nahezu vollständig auf die Universitäten angewiesen ist und ihr nicht, wie im Falle der anderen Wissenschaftsklassen, eine Vielzahl unterschiedlichster selbständiger Forschungseinrichtungen zur Seite stehen, führen die Maßnahmen, die den Universitäten auferlegt werden, hier zu sehr viel grundlegenderen Einbrüchen. Um so bedeutsamer werden selbstständige Forschungseinrichtungen in den Humanities, wie sie mit den Geisteswissenschaftlichen Zentren derzeit erprobt werden. Denn die immer noch gern verwendete Formel von den „zwei Kulturen“, in die Diltheys Modell vor fünfzig Jahren modernisierend umbenannt wurde, ist längst zu einem Euphemismus geworden, da die Geisteswissenschaften heute allenfalls noch einen kleinen Bruchteil der Wissenschaft umfassen, gemessen an den Forschungsmitteln einen verschwindend geringen. Überboten wird diese institutionelle Marginalisierung jedoch durch eine möglicherweise empfindlichere symbolische Entwertung.

Diese ist vor allem ein Effekt dessen, daß Grundlagenforschung ebenso wie die Erforschung historischer und kultureller Zusammenhänge durch das politische Gebot nutzbringender, anwendungsorientierter Forschung und zunehmender Spezialisierung ins Hintertreffen geraten sind. Diese Entwicklung ist allerdings nicht nur der Wissenschaftspolitik geschuldet, sekundiert wurde sie auch durch eine gewisse Neigung zur Eigenmarginalisierung in den Geisteswissenschaften selbst: (1) dadurch, daß diese sich lange Zeit vornehmlich als Kompensations- und Wertekultur definierten oder als Hüter von Tradition und Sinnfragen verstanden, gepaart mit einer verbreiteten Indifferenz, wenn nicht Abwehr gegenüber den Erkenntnissen und Entwicklungen in Natur-, Bio- und Technikwissenschaften; und (2) durch die Selbstbegrenzung solcher Disziplinbeschreibungen, die sich allein über Gegenstände definieren und Wissenschaft mit „Zuständigkeiten“ und der Verwaltung eingegrenzter Gebiete verwechseln.

Dagegen käme es darauf an, die Tugenden des Humboldtschen Universitätsmodells, d.h. die für analytische Erkenntnis notwendige Politikferne, mit einer Aufmerksamkeit gegenüber jenen Fragen zu verbinden, die die Gegenwart vorgibt, – deren größere Kontexte ebenso wie deren Geschichtlichkeit immer mehr aus dem Blick geraten, je weniger sich die Humanities mit ihren spezifischen Kompetenzen und Erkenntnisweisen einmischen. Denn auch wenn die tonangebenden „Fortschritte“ z.Zt. aus den Life Sciences, aus Biochemie und Nanotechnologie kommen, so können deren Voraussetzungen, Konsequenzen und die damit verbundenen Zäsuren doch nicht von diesen allein übersehen werden, vielleicht sogar am wenigstens von ihnen selbst.

Angesichts der laufenden Entwicklung ist das Gebot zur Inter- und Transdisziplinarität ebenso ubiquitär wie praktisch uneingelöst. In dieser Situation kann die Literaturwissenschaft sich auf eine ihr genuine Eigenart besinnen und berufen, die ihr früher oft den Vorwurf eingetragen hat, keine „reine“ Wissenschaft zu sein, sondern zu freizügig in anderen Gebieten zu wildern. Im Anbetracht der wachsenden Einsicht in die Hybridität und Intermediarität der Phänomene – mit Bruno Latour gesprochen: darein, daß die Probleme „nie modern gewesen“ sind, nie in reine Kategorien einzuordnen – könnte sich diese Not in eine Tugend verwandeln. Da die Literatur immer schon das Unermeßliche und Vielfältige der ganzen Kultur zur Darstellung gebracht und in ihre Sprache und Einbildungskraft aufgenommen hat, da sie sich u.a. als eine experimentelle Vereinigung der heterogensten Elemente des Wissens und Lebens zeigt, zählt die Literatur traditionsgemäß zu den Statthaltern des Hybriden. Ausgestattet mit einem althergebrachten Vermögen für die Vermittlung des Unterschiedlichsten, ist Literatur ein Medium im buchstäblichsten Sinne. Die Literaturforschung, insofern sie ihre Erkenntnisweisen und Instrumente an diesem Medium geschärft hat, könnte also gut vorbereitet sein. Geübt in der Position, zwischen dem Differentesten zu kommunizieren, gehen ihre Perspektiven weit über die Erforschung der Literatur als Gegenstand hinaus.

Die Beiträge, die in diesem Heft versammelt sind, betreffen eine solche Position vor allem in zweifacher Hinsicht:

  1. den notwendigen Brückenschlag zwischen Kunst und Wissenschaft, für den die Literaturwissenschaft Verantwortung übernehmen kann, da sie gewohnt ist, mit der Schwelle zwischen Bildern und Logos, zwischen Imaginärem und Gesetzmäßigkeiten umzugehen und eingeübt ist in die Moderation zwischen akademischem Diskurs und Kultur,
  2. ein besonderes Engagement für den dringend gebotenen Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, für den die vielfältigsten Bezüge literarischer Texte zu den unterschiedlichsten Wissensfeldern und –kulturen der Literaturwissenschaft eine gute Schule sind.

Die abgedruckten Texte gehören in das Umfeld zweier gegenwärtiger Arbeitsfelder am Zentrum für Literaturforschung, dem Forschungsschwerpunkt II zu Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften und der im Herbst 2001 angelaufenen Veranstaltungsreihe WissensKünste.

Der im Archiv der Russischen Akademie der künstlerischen Wissenschaften (1921-29) aufgefundene und hier erstmals in deutscher Übersetzung publizierte Aufsatz von Wassily Kandinsky über „Synthetische Kunst“ berührt sich in manchen Aspekten mit der gegenwärtigen Debatte um die „Dritte Kultur“, jedenfalls insoweit als auch Kandinskys naturwissenschaftliche Verfahren für die Klärung der Funktionsweisen sinnlicher Wahrnehmungen heranziehen möchte. Allerdings mündet Kandinsky Plädoyer für die Zusammenarbeit der Künste und der Kunstwissenschaft mit den sogenannten positiven Wissenschaften nicht in einer Synthese der Kulturen, sondern er betont die „fundamentalen Unterschiede“ ebenso wie die Berührungspunkte. Sein Text steht an einem Schnittpunkt etlicher Forschungsprojekte im ZfL: (1) einem Projekt zum Paradigma des ‚psychophysischen Parallelismus‘ im sogenannten Zeitalter der Nerven (um 1900), (2) einer Untersuchung aisthetischer Theoriebildung im Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften sowie (3) dem Projekt einer Archäologie der Moderne, das sich auf die „neuen Sinneskulturen“ der Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert konzentriert.

Zugleich gehören seine Überlegungen in die Vorgeschichte jener Künste, die bestrebt sind, (natur-) wissenschaftliche Experimente in ihre Produktionen zu integrieren, wie sie in der Veranstaltungsreihe WissensKünste vorgestellt werden. Walter Benjamins Formel von einer im Stande der Ähnlichkeit entstellten Welt könnte das Motto abgeben für die Arbeiten von Anthony Aziz und Sammy Cucher. In ihren teils digitalen Photoarbeiten, in denen die Grenze zwischen Dingen und Körpern im Modus von Ähnlichkeit und Entstellung difundiert, wird das „optische Unbewußte“ (Benjamin), das mit der Photographie auf den Plan trat, in eine Dimension des virtuell Unbewußten fortgeschrieben. Auch Catherine Wagners Photoarbeiten, die sie in der Mai-Veranstaltung der WissensKünste im Gespräch mit dem Kunsttheoretiker Benjamin H.D. Buchloh über das Thema „Die neuen Bilder des Unsichtbaren“ vorstellen wird, sind Dingen gewidmet. Allerdings geht es bei ihr eher um einen Einblick in die Laborwissenschaft, wie der New Yorker Kritiker William H. Gass in seiner hier abgedruckten Besprechung von Wagners Arbeiten betont, und auch um die Entwicklung einer hybriden Epistemologie mit künstlerischen Mitteln, so die Wissenschaftshistorikerin Helen E. Longino in ihrem in diesem Heft zu lesenden Beitrag über „Science in Context“.

Weniger offensichtliche Spuren naturwissenschaftlicher Paradigmen verfolgt Wolf Kittler in seiner Lektüre von Michel Foucaults „Archäologie des Wissens“. Ausgehend von dem Leitbegriff der Streuung in Foucaults Buch und dessen Korrespondenzen zum thermodynamischen Konzept diskutiert er die Bedeutung von Denkfiguren der statistischen Mechanik für die „Archäologie“ ebenso wie die Effekte kriegstheoretischer Zitate in der Machtanalyse Foucaults. Entstanden ist Kittlers Gastessay während seines Aufenthaltes als Visiting Scholar am ZfL, währenddessen er vor allem an den Diskussionen im Forschungsschwerpunkt II Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften teilgenommen hat. Dessen gemeinsamer Untersuchungshorizont und die darin versammelten einzelnen Forschungsprojekte stellen sich in diesem Heft vor, nachdem in Heft 3 der Trajekte über den Forschungsschwerpunkt I zur Kulturgeschichte Europas informiert wurde.