Urpoesie und Morgenland
Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«
Vielleicht hätte die deutsche Literaturgeschichte ein wenig anders verlaufen können: Für einen kurzen Augenblick um 1800 sah es so aus, als könne nicht nur die Fixierung auf einen um die antiken Klassiker erweiterten nationalen Kanon vermieden werden, sondern als würde auch das Andere der abendländischen Dichtung: das Morgenland, die Bibel, zu einem Teil der Poesie. Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) bündelt Anregungen der christlichen und jüdischen Tradition, der aufklärerischen Kritik und der entstehenden historisch-kritischen Bibelwissenschaft, um eine umfassende, anthropologisch und epistemologisch begründete Poetik auf biblischer Grundlage zu entwerfen.
Aber Vom Geist der Ebräischen Poesie fand – obwohl viel gelesen – keine Nachfolger. Es fällt zwischen die Disziplinen, denn Bibel und Literatur, einander kaum begegnet, trennten sich wenig später: Die schöne Literatur unterschied sich nicht nur von der Wissenschaft und der Geschichte, sondern auch von der Religion; auf der anderen Seite verdrängte die sich herausbildende historisch-kritische Erforschung der Bibel weitgehend die Frage nach deren Poesie.
Herders Text ist also ein Grenzfall und eröffnet eine Fülle von Lektüren, die die verschiedenen Beiträge des vorliegenden Bandes auszuloten versuchen: zwischen Poetik und Bibelexegese, zwischen christlicher Tradition und jüdischem Text, zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik, zwischen Bibelkommentar und Lehrdialog, zwischen orientalistischer Imagination und historischer Philologie.