Abstand
Zusammenstehen heißt auch Abstandhalten. Das lehrt eine Pandemie, in der Solidarität nicht mehr über einen kräftigen Händedruck oder Bruderkuss, sondern über den Sicherheitsabstand ausgedrückt werden muss. Aber Abstände waren auch schon vor den Maßnahmen zum Infektionsschutz Teil eines gelungenen Zusammenlebens und -arbeitens. Nachbarinnen und Nachbarn versuchen auf Abstand zu bleiben, indem sie im alltäglichen Austausch über private und berufliche Details ihres Lebens diskret schweigen. Unter Kolleginnen und Kollegen wird die kritische Distanz wertgeschätzt, die einen zweiten, objektiven Blick auf das Ergebnis der eigenen Arbeit verspricht. Eine professionell distanzierte Haltung gegenüber der Literatur einzunehmen, gilt für das Feuilleton oder bei der Vergabe von Literaturpreisen als zentral. Das gelingt nicht immer und führt mitunter zu Skandalen.
In den letzten Jahrzehnten haben aber auch die intimen Leserinnen und Leser für die Literaturproduktion zunehmend an Bedeutung gewonnen, sei es als Mentorinnen und Mentoren in den Schreibschulen oder als retweetende, likende, beim Schreiben mitlesende Social-Media-Community. Diese Entwicklungen fordern das alte Konzept kritischer Distanz und ihre Institutionen heraus. In der Literatur der Gegenwart lässt sich zudem eine besondere Freude am Spiel mit Abständen zwischen einerseits distanziert-beobachtendem, andererseits immersivem Schreiben wahrnehmen. Immer wieder neu werden die Abstände zwischen Erzählstimme und Figuren vermessen, zwischen Autorschaft und Autofiktion, zwischen Vergangenheitsszenarien, Gegenwartsemphase und Zukunftsentwürfen. Auf dem Prüfstand stehen dabei Ironie, Verstellung und Emotionslosigkeit als erzählerische Verfahren der Distanznahme.
Hier geht es ebenfalls nicht nur darum, Abstand herzustellen und zu halten, sondern häufig auch darum, ihn zu überwinden. Von der eigenen Herkunft zu erzählen oder nach der eigenen Klassenzugehörigkeit zu fragen kann zur Bewusstmachung von Abständen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zur Neuaushandlung von Beziehungen beitragen. Erzählen und Übersetzen sind dabei Wege, die die zeitgenössische Literatur beschreitet, um Brücken zu bauen und Abstände zu verringern, aber nicht nur: Sie eröffnet zugleich neue Möglichkeiten zur sprachlichen Differenzierung und Distanzierung.
Diesen Fragen nach kritischer und spielerischer Distanz, nach dem erzwungenen oder erwünschten Abstandhalten und nach den Abständen, die die Literatur erzeugt, erträgt oder bezwingt, wollen wir uns im Juni 2021 bei den Literaturtagen des ZfL im Literaturhaus Berlin in acht Lesungen und Gesprächen sowie einem Vortrag widmen.
Teilnahme mit FFP2-Maske (kann am Sitzplatz mit Abstand abgelegt werden) sowie tagesaktuellem negativem Corona-Test oder Impfnachweis.
Die Veranstaltung wird außerdem als kostenfreier Livestream auf dem Youtube-Kanal des Literaturhauses übertragen:
Die Literaturtage des ZfL werden gemeinsam veranstaltet vom Literaturhaus Berlin und dem ZfL, in diesem Jahr in Kooperation mit dem Projekt Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Abb. oben: © rawpixel
Programm
Freitag, 11.06.2021
13.45 Eröffnung
Lesungen und Gespräche mit ...
14.00
Sharon Dodua Otoo und Andreas Lipowsky (ZfL)
15.00
Joshua Groß und Eva Geulen (ZfL)
16.30
Leif Randt und Stefan Willer (HU)
17.30
Olivia Wenzel und Sonja Longolius (Literaturhaus Berlin)
19.00 Vortrag
Johannes Franzen (Universität Bonn): Die Trennung von Publikum und Autor. Über Nähe und Distanz im digitalen Literaturbetrieb
anschließend Gespräch mit Pola Groß (ZfL)
Samstag, 12.06.2021
Lesungen und Gespräche mit ...
15.30
Jackie Thomae und Christina Ernst (ZfL)
16.30
Juan S. Guse und Janika Gelinek (Literaturhaus Berlin)
18.00
Iris Hanika und Ulrike Vedder (HU)
19.00
Lutz Seiler und Hanna Hamel (ZfL)
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Tagesticket 10€, ermäßigt 7€