Tagung
29.11.2023 – 01.12.2023

Always Near. Nahe Zukunft in der Literatur der Gegenwart

Ort: Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Pariser Str. 1, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin
Organisiert von Christina Ernst, Moritz Gansen, Hanna Hamel, Alexandra Heimes (alle ZfL), Natalie Moser (Universität Potsdam), Eva Stubenrauch (HU Berlin)

Jede Gegenwart hat ihre eigene Zukunft. Glaubt man einschlägigen Zeitdiagnosen, so scheint die Zukunft des 21. Jahrhunderts seltsam »zurückgebogen zu werden in die Gegenwart« (Gumbrecht 2010). Besonders deutlich zeigt sich der Wandel der literarischen Imaginationen und Gestaltungsformen der Zukunft im Genre der Science-Fiction. Während klassische Science-Fiction-Erzählungen bevorzugt auf ferne Welten und Zeiten ausgreifen, um das Unbekannte der Zukunft (und den Status Quo der eigenen Gegenwart) spekulativ auszuleuchten, zeichnen sich in jüngerer Zeit signifikante Verschiebungen ab: In der zeitgenössischen Literatur lässt sich ein verstärktes Interesse an solchen Fiktionen beobachten, die ihre Leser:innen nicht mit der radikalen Fremdheit von weit entfernten Welten konfrontieren, sondern mit Zukunftsentwürfen, die in nächster Nähe zu unserer aktuellen Wirklichkeit angesiedelt sind – und ihren Zukunftsprogrammen, die auch aus den Wissenschaften oder der Politik stammen. Doch wie sehen die Zukünfte genau aus, auf die die Literatur der Gegenwart heute spekuliert? In welchen Möglichkeitsräumen operiert sie? Welche Potentiale der Gegenwart werden identifiziert oder konterkariert und wie werden sie literarisch in die Zukunft hinein entwickelt? Welche Darstellungsformen und Schreibweisen kommen zur Geltung, wie werden Ereignisse, Wendepunkte und zeitliche Strukturen modelliert? Und inwiefern werden etablierte Unterscheidungen – etwa zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Realismus und Spekulation – auf die Probe gestellt oder unterlaufen?

Ausgehend von der Literatur der Gegenwart, aber auch mit Blick auf andere Künste und die wissenschaftliche Zukunftsforschung widmet sich die Tagung der Frage, in welchen Formaten, mit welchen Modellen und welchen Narrativen heute Bezug auf die nahe Zukunft genommen wird. Von besonderem Interesse sind dabei diejenigen Imaginationen der nahen Zukunft, die sich mit ökologischen Fragen und dem Anthropozän sowie mit Digitalität und künstlicher Intelligenz befassen. Nicht nur haben beide Bereiche ihren entscheidenden Anteil an Katastrophen- und Heilsfantasien unserer Zeit, vielmehr bergen sowohl die klimatischen Transformationen als auch die Weiterentwicklung von Digitalität und künstlicher Intelligenz großes Potential, die Formen des Erzählens selbst zu verändern, indem sie eine auf den Menschen und dessen Erwartungen an die Zukunft fokussierte Perspektive stark relativieren (etwa in Hinblick auf eine longue durée natürlicher Entwicklungen oder literarisch produktive large language models wie GPT3 oder 4). Vor dem Hintergrund dieser Debatten und Entwicklungen ist auch zu fragen, welchen spezifischen Einsatzpunkt die Literatur mit Blick auf umwälzende Entwicklungen wie Klimakatastrophen, fortschreitender Digitalisierung oder auch Pandemien hat und wie sie sich im Verhältnis zu anderen Diskursen – etwa den modellierenden oder prognostischen der Wissenschaften – selbst verortet.

Die Tagung findet in Kooperation mit der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Sie ist die letzte Veranstaltung des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur am ZfL und bildet den Abschluss der Reihe »Always near«, die seit Herbst 2022 mit verschiedenen Kooperationspartnern in Berlin stattfindet. In Lesungen und Gesprächen, Podiumsdiskussionen und einer Tagung widmet sich die Reihe der Frage, welche Zukunft uns in der jüngsten Gegenwartsliteratur bevorsteht.

Programm

Mittwoch, 29.11.2023

19.00
Auftakt

 

Donnerstag, 30.11.2023

10.00
Moderation: Moritz Gansen (ZfL)

  • Hanna Hamel, Alexandra Heimes (beide ZfL), Eva Stubenrauch (HU Berlin): Eröffnung
  • Julia Grillmayr (Kunstuniversität Linz): Realismen unserer Zeit

11.30

  • Jürgen Wertheimer (Universität Tübingen): Cassandra oder: der Fluch als Chance
  • Anders Engberg-Pedersen (Syddansk Universitet, Odense): The National Security Novel

15.00
Moderation: Alexandra Heimes (ZfL)

  • Moritz Ingwersen (Technische Universität Dresden): New Futurisms: Critical Worldmaking from Indigenous Futurism to Solarpunk
  • Der Vortrag von Karin Krauthausen muss krankheitsbedingt entfallen.

16.30
Moderation: Hanna Hamel (ZfL)

  • Ann Cotten (Berlin): Warum Gott fern bleiben muss: Intuitive Prognostik der Abweichung und genommene Freiheit in »Nicht-was-du-denkst«-Originalitätspoesie

19.00

  • Choose Your Future
    Lesungen, Installation »Die drei Jahreszeiten« und Podiumsgespräch mit Ann Cotten, Tim Holland und Anja Kümmel

 

Freitag, 1.12.2023

9.30
Moderation: Eva Stubenrauch (HU Berlin)

  • Stefan Willer (HU Berlin): Fortschritt, Freiheit, Outer Space. Mit Dietmar Dath hinaus über die Nahzukunft
  • Georg Dickmann (UdK Berlin): »Near pharmacological Futures?« – Zu seltsamen und prekären Stoffen der Science-Fiction

11.15
Moderation: Christina Ernst (ZfL)

  • Philipp Schönthaler (Berlin): Die nahe Zukunft als literarischer Imperativ
  • Jiré Emine Gözen (University of Europe for Applied Sciences, Berlin): Von »Data Made Flesh in the Mazes« zu »A Vessel that Accepts Nature as It Is«: Über eine Metamorphose des Denkens über Zukunft in experimentellen Gefügen

14.00
Moderation: Natalie Moser (Universität Potsdam)

  • Hania Siebenpfeiffer (Philipps-Universität Marburg): Zwischen Utopie und Anarchie: (Weibliche) Zukunftsentwürfe in Enzensbergers Auf See
  • Eva Axer (ZfL): Sprechende Hyperobjekte? Skalare Inkongruenz in Kim Stanley Robinsons The Ministry for the Future

16.15

  • Schlussdiskussion