Epos und Episode
Gibt es eine Rückkehr des Epos? In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur jedenfalls hat es den Anschein. Raoul Schrotts Erste Erde. Epos aus dem Jahr 2016 konkurriert mit seinen antiken Vorläufern um den Anspruch, das Ganze der Welt, der Natur und des Kosmos zu erzählen. Vergleichsweise schmal gerät dagegen Ann Cottens im selben Jahr erschienenes Versepos Verbannt!, das in vierhundert Strophen eine abgeschiedene Inselwelt schildert. Ob von megalomanem Umfang oder relativer Kürze: Das Epos behauptet offenbar seine Rolle als literarische Großform, dem Verdacht des Unzeitgemäßen zum Trotz.
Genau dieses Fortleben hat Tradition. Im 18. Jahrhundert musste das Epos zwar viel von seiner Funktion und Geltung an den Roman abtreten, doch blieb es weiterhin poetologischer Bezugspunkt. Im 19. Jahrhundert ermöglichte das die geschichtsphilosophische Theoretisierung des Epos, so in Hegels wirkungsreicher Bestimmung als »einheitsvolle Totalität«. Im 20. Jahrhundert aktualisierte der Erzählforscher André Jolles diese Zentralstellung durch die Diagnose, dass Romane prinzipiell in der Mehrzahl aufträten, während jedes Epos wie ein Meilenstein dastehe. Überlebt hat in jedem Fall die Rede über das Epos, die – sei es wörtlich, sei es metaphorisch – sowohl auf die Größe des Stoffes als auch auf den Umfang der Narration zielen kann.
Epen in diesem erweiterten Verständnis sind auch außerhalb der Literatur und Dichtung zu finden, schon seit langem im Film, zunehmend auch in den TV-Serien, die in den letzten Jahren eine zuvor ungeahnte Konjunktur erleben. In Ordnungen und Erzählweisen des Seriellen stehen tradierte Probleme des Epos erneut zur Debatte wie die notwendigen oder kontingenten Grenzen des Umfangs, die Ergänzbarkeit der Strukturen oder das Verhältnis von Auslese und Totalität. Als Gegenbegriff zum Epos kommt derjenige der Episode ins Spiel: gemäß heutiger Serien-Terminologie die ›Folge‹ in der ›Staffel‹, klassisch aber auch der Einschub, das Hinzukommende, die Abweichung vom Hauptgeschehen, das epeisodion in der antiken Tragödie. Indem die neuen Serien die alten Epen beerben, aktualisieren sie also auch die Frage, wie sich epische Bauformen zu den Modalitäten dramatischer Gattungen verhalten.
Wie wäre die Aktualität des Epos näher zu bestimmen? Welche Umbrüche und Kontinuitäten, welche Gattungs-, Sprach- und Medienwechsel kennzeichnen die lange Geschichte seiner Übertragungen? Wohin migrieren die spezifischen Qualitäten der Großform? In welchem Verhältnis stehen Epos bzw. epische Form und Moderne zueinander? Diese und verwandte Fragen wird die ZfL-Sommerakademie erörtern.
Programm
Öffentliche Abendvorträge:
- Mo, 10.09.2018, 19.00 Uhr, Trajekte-Tagungsraum
Ruth Mayer (Leibniz Universität Hannover): Managing Complexity. Modernity, the Film Serial, and the Hazards of Neverending Storytelling - Di, 11.09.2018, 19.00 Uhr, Trajekte-Tagungsraum
Christiane Reitz (Universität Rostock): 1000 Schiffe oder 1186? Zur Poetik des Katalogs in antiker epischer Dichtung
Abb. oben: Homer, Ilias II 757–775 in Oxford, Bodleian Library, Papyrus Hawara 24–28. (2. Jh.). Quelle: Wikimedia