Erinnerung und Fiktion. Literarische Schreibweisen im Archiv der deutschen u. europ. Geschichte
Nach der Auflösung der zwei Blöcke 1989, ist in der Literatur eine neue Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu verzeichnen: mit Schauplätzen, Begebenheiten und Figuren, die der deutschen und europäischen Geschichte von Nationalsozialismus, Shoah und Exil, von Totalitarismus und Nachgeschichte entstammen. Jenseits einer Ökonomie von Schuldangst, die die deutsche Nachkriegsliteratur über Jahrzehnte dominierte, melden sich in der Gegenwartsliteratur Neugier, Obsessionen und Interessen zu Wort, die die eingefahrenen Umgangsweisen aus dem Repertoire der sogenannten Vergangenheitsbewältigung hinter sich lassen.
Schriftsteller einer gegen bzw. nach Ende des Krieges geborenen Generation, die selbst an den von ihnen beschriebenen Ereignissen nicht beteiligt waren, haben eigene Schreibweisen im Umgang mit der Geschichte entwickelt, die das Verhältnis von Fiktion und Dokument, von literarischem Entwurf und Archiv, von Imagination und Recherche neu gestalten. In dieser Literatur ist es oft erst das fiktionale Szenario, erst der – mit Hilfe der Einbildungskraft eröffnete – Zeit-Raum der Literatur, der es ermöglicht, die im Archiv recherchierten Quellen, die verborgenen und verdrängten Spuren der Geschichte, das Verschwiegene und das Unheimliche im Heimischen zum Sprechen zu bringen. Denn oft basieren die fiktionalen Schauplätze auf genauen Recherchen, auf historischen Ermittlungen, Archivdokumenten und authentischen Quellen.
So dringt das Szenario von Marcel Beyers Roman Flughunde zugleich in Hitlers Bunker wie in die Aufzeichnungen zu den Menschenversuchen der Nazi-Medizin ein; Norbert Gstrein schickt in seinem Roman Die Englischen Jahre eine Journalistin auf Recherche-Reise ins englische Exil und auf die Spuren einer gefälschten Identität; László Mártons Die schattige Hauptstraße erzählt, ausgehend von aufgefundenen Fotografien, vom Weg zweier Mädchen durch die ungarische Vorkriegs- und Kriegszeit, während es in Stephan Wackwitz' Ein unsichtbares Land zerfallene und damit unsichtbare Fotografien sind, die die Erinnerung an den Großvater ermöglichen; Katharina Hacker versetzt ihren Bademeister einer nach der Wende geschlossenen Badeanstalt an einen Ort, an dem unheimliche Stimmen aus der Vergangenheit hörbar werden, Ursula Krechels Recherchen vergegenwärtigen das ferne Shanghai in einen nur der Imagination zugänglichen Exil- und Gedächtnisort, Wolfgang Hilbigs Ich-Roman führt in die Abgründe der notwendigen Selbstausfahndung in einer unter Staatsschutzverhältnissen konstruierten Person, und Reinhard Jirgls Romane weisen in ein Niemandsland zwischen verschiedenen Welten, Kulturen und Zeiten, dorthin, wo die Leichen im Keller der deutschen Geschichte kenntlich werden.
Diese neue Dialektik von Fiktion und historischen Begebenheiten ermöglicht auch einen anderen Blick auf den Umgang mit Erinnerungen und dem kulturellen Gedächtnis in der Literatur. Stand die Debatte zur sogenannten Holocaust-Literatur lange Zeit im Zeichen von Pathosformeln – wie denen des 'Unsagbaren', des 'Authentischen', der 'Zeitzeugen' –, so hat gerade die Sucht nach dem "Authentischen" blind gemacht für die Demarkationslinie zwischen historischer und simulierter Zeugenschaft (wie der Fall Wilkomirski deutlich gezeigt hat). Dieser Fall einer simulierten Opfer-Erinnerung hat zugleich jene Versuche ad absurdum geführt, die die Erinnerungen von Überlebenden vor das Gericht positiver Wahrheitsfindung stellen und eine Fahndung nach 'false memory' betreiben wollen.
Die Literatur von Überlebenden oder von Zeugen jener Begebenheiten, die es zu erinnern gilt, hat nämlich immer schon alle Möglichkeiten der poetischen Sprache und Fiktionalisierung, der erzählerischen Entstellung und Maskierung, der Vielstimmigkeit und des literarischen Experiments genutzt, um die eigenen Erinnerungen zur Sprache zu bringen. Das gilt nicht nur für Erinnerungen von Überlebenden der NS-Politik, sondern auch für die literarischen Mitteilungen aus den bleiernen Zeiten des Totalitarismus, der Überwachung und Zensur.
Programm
Freitag, 5. Dezember 2003
15-17 Lesungen: Reinhard Jirgl, Ursula Krechel
17.30-19.30 Lesungen: Norbert Gstrein, Wolfgang Hilbig
20h Podiumsdiskussion: "Topographie der Erinnerungen" mit Norbert Gstrein, Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl und Ursula Krechel (Moderation: Stephan Braese)
Samstag, 6. Dezember 2003
11-13 Lesungen: Marcel Beyer, Katharina Hacker
15.30-16.30 Vortrag Stephan Braese: "Fiktionalisierung als Modus des Erinnerns. Literarische Unmittelbarkeit bei Georges-Arthur Goldschmidt, Imre Kertesz und Jorge Semprún"
17-19 Lesungen: László Márton, Stephan Wackwitz
20h Podiumsdiskussion: "Stimmen und Bilder der Erinnerung" mit Marcel Beyer, Katharina Hacker, László Márton, Stephan Wackwitz (Moderation: Sigrid Weigel)