Gespräch
12.06.2023 · 18.00 Uhr

Ernst Johannes Haberl, Sigrid Weigel: Begrifflichkeit und Chirurgie – am Beispiel angeborener Schädeldeformation

Ort: Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Mitte, Chariteplatz 1, 10117 Berlin. Bonhoefferweg 3, Seminarraum 41, 3. Ebene
ZfL-Projekt(e): SchädelBasisWissen

Gespräch im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Medizin in Übersetzung: Labore, Politische Ökonomien, Kliniken« der Charité Berlin

Jeder Übersetzungsakt impliziert buchstäblich einen Prozess des Übergangs oder der Verschiebung (etym: translatio = Transport von einem Ort zum anderen). Dementsprechend wirken sich Übersetzungen unweigerlich auf ihren Gegenstand aus, indem sie ihn auf die eine oder andere Weise verändern und zuweilen auch entstellen.

Im Bereich der innovativen zeitgenössischen Medizin ist es zwingend geworden, translational zu forschen und zu arbeiten. Die zentrale Aufgabe der translational medicine besteht darin, die Hindernisse zu minimieren, die einer reibungslosen Umsetzung der in der Grundlagenforschung im Labor und in klinischen Studien gewonnenen Erkenntnisse in die alltägliche klinische Praxis und Entscheidungsfindung entgegenstehen könnten. Es scheint uns jedoch, dass Fragen der Übersetzung auch auf anderen Ebenen des Feldes von Krankheit und Gesundheit auf dem Spiel stehen. Auf Ebenen, die im medizinischen Diskurs nur selten angesprochen und noch seltener im Zusammenhang mit dem Imperativ nach einer translational medicine reflektiert werden.

Auf einer ersten und sehr konkreten Ebene sind Übersetzungen erforderlich, damit ein Arzt /eine Ärztin oder eine Pflegekraft mit PatientInnen kommunizieren kann, mit denen er/sie keine gemeinsame Sprache teilt; eine Situation, die in den heutigen Migrationsgesellschaften immer häufiger vorkommt. Weit über die Frage der sprachlichen Herausforderungen hinausgehend, werden ÜbersetzerInnen, PatientInnen, Ärztinnen und Pflegekräfte regelmäßig mit den vielfältigen Reibungen konfrontiert, die
zwischen differierenden und oft unvereinbaren Vorstellungen davon auftreten, was ein Körper oder was ein Geist ist, wie Krankheit und Gesundheit konzeptualisiert werden und was entsprechend von diagnostischen Handlungen und therapeutischen Interventionen zu erwarten ist.

Ausgehend von diesen konkreten Situationen möchten wir im Laufe der Veranstaktungsreihe andere Übersetzungsprozesse, die für die medizinische Praxis konstitutiv sind, neu beleuchten: Übersetzungen von der Grundlagenforschung im Labor über klinische Studien bis hin zu therapeutischen Protokollen; Übersetzungsprozesse von statistischen evidenzbasierten Erkenntnissen zu einzelnen klinischen Fällen; Übersetzungen von faktischem Wissen über eine Diagnose zur Offenbarung dieser Tatsache an die von ihr betroffenen Personen; und nicht zuletzt Übersetzungen zwischen dem medizinisch-pharmakologischen Komplex und politischen Ökonomien (des Vertrauens und Misstrauens und natürlich von Finanzen).

Kurz, wir zielen darauf ab, heterogene Übersetzungspraktiken rund um Krankheit und Gesundheit neu zu problematisieren und miteinander in Dialog zu bringen. Wir hoffen, dass ein solcher Ansatz eine Bereicherung der Beschreibungen und Analysen dieser unterschiedlichen Operationen ermöglicht und zugleich neue Dialogmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Akteuren, die für die jeweiligen Übergänge und Verschiebungen verantwortlich und von ihnen betroffen sind, eröffnet.

Gemeinsam haben Sigrid Weigel und Ernst Johannes Haberl das Forschungsprojekt SchädelBasisWissen am ZfL geleitet, aus dem zwei gleichnamige, 2017 im Kadmos-Verlag erschienene, Bände hervorgegangen sind.

Ernst Johannes Haberl hat 2005 die deutschlandweit erste autarke Abteilung für Kinderneurochirurgie an der SE, Berliner Charite gegründet und diese bis 2014 geleitet. Nach einer Zwischenstation in Ulm, wurde er 2016 auf denLehrstuhl für Kinderneurochirurgie in der Klinik der Universität Bonn berufen und seit 2022 leitet er das deutsch-französische Ausbildungsprogramm »Selektive dorsale Rhizotomie«.

Sigrid Weigel ist ehemalige Direktorin des ZfL, das sich unter ihrer Leitung zu einem Labor für experimentelle interdisziplinäre Forschungen entwickelt hat. Auf Grundlage ihrer Forschungen zur ersten Kulturwissenschaft und Bildtheorie hat sie Arbeiten zu Genetik/Genealogie/Erbe, zu Freud und Neuro-Psychoanalyse, zu Empathie, Bioethik, Emotion Recognition und zur Kultur- und Mediengeschichte des menschlichen Gesichts vorgelegt.