Fälschungen. Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten
Programm
Fälschungsfälle in Physik und in Medizin haben jüngst das Spektrum der brisanten Fälschungen erweitert, nachdem zuvor vor allem Fälschungen in den Massenmedien für Skandale gesorgt hatten. Praktiken des Fakes und Remakes werden von Künstlern als kreative Techniken zum Einsatz gebracht – Literatur- und Kunstbetrieb sind seit langem mit Plagiaten und Kopien befaßt –, während Philologie und Kunstwissenschaft verschiedene Methoden zur Identifikation von Original und Fälschungen entwickelt haben. Dabei sind die Grenzen zwischen Repräsentation und Konstruktion durch die digitalen Medien ohnehin fließend geworden, und in den Biowissenschaften etwa überlagern sich zunehmend Urheberschaft und Patent. Insofern betrifft die Fälschung Phänomene in zahlreichen Feldern von Medien, Künsten und Wissenschaften und kann sinnvoll nur in einem interdisziplinären Kontext erörtert werden.
Die Tagung nimmt die aktuellen Fälle zum Ausgangspunkt, um die geschichtlichen und theoretischen Dimensionen der Fälschung auszuloten. Da von Fälschungen erst unter bestimmten (wissenschafts- und kunst-)historischen Voraussetzungen und auf der Grundlage spezifischer Begriffe von Wahrheit, Echtheit, Originalität und Evidenz gesprochen werden kann, soll es um eine Archäologie und Genealogie von Fälschungen in der Geschichte von Quellen, Dokumenten, Werken, Objekten, Erfindungen und wissenschaftlichen Gesetzen gehen: um die Entstehung des Fälschungsbegriffs aus der Geschichte von Urheberschaft/ Autorschaft und Original/Werk sowie um die Begründung von Fälschungen aus spezifischen Erkenntnis- und Beweismethoden und ihren konzeptuellen, materiellen und medialen Instrumentarien.
Dabei soll weniger eine postmoderne Tendenz zur Aufhebung des Fälschungsbegriffs in einer Kultur allgemeiner Reproduzierbarkeit im Zeichen von Simulakren, Kopien und Klonen im Zentrum des Interesses stehen. Vielmehr soll es – um es in einem Paradox zu formulieren – um "echte" Fälschungen gehen, für die die Geschichte von Produktions- und Reproduktions-verfahren eine der Voraussetzungen bildet, neben den philosophischen, juristischen und experimentellen Bestimmungen dessen, was keine Fälschung darstellt. Eine Hypothese der Tagung ist nämlich, daß Fälschungsfälle indirekt Auskunft geben über den ‚Normalfall’, d.h. über die Begriffe und Techniken, die Regeln und Rituale des jeweiligen Systems, dem sie entstammen. Und hierfür sind gerade auch solche (Wissens-)Kulturen und Traditionen aufschlußreich, denen der Begriff der Fälschung (noch) fremd ist oder die sich zumindest gleichgültig gegenüber Authentizitätsbeweisen verhalten (wie beispielsweise mythische und religiöse Traditionen oder auch die mittelalterliche Literatur).
Die Tagung wird begleitet durch ein Kurzfilm- und ein Videoprogramm mit künstlerischen Beiträgen, die fortlaufend gezeigt werden: Die Dokumentarfilme des Programms "Gemischtes Doppel – Facts & Fakes" lassen es offen, ob sie "echt" oder "gefälscht" sind; im Programm "Original ↔ Fälschung" zeigen Künstlervideos ihre ästhetischen Strategien intelligenter Adaption, Appropriation und ironischer Kommentierung.
Donnerstag, 30.10.2003
14.30 Sigrid Weigel, ZfL, und Anne-Kathrin Reulecke, TU Berlin:
Begrüßung und Einführung
I. Medien und Material der Fälschung
Moderation: Sigrid Weigel
Alexandre Métraux, Otto Selz Institut der Universität Mannheim:
Zeit für Fälschung. Über die Chronotope gefälschter Fälle
17.00 Norbert Bolz, TU Berlin:
Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung
Bernhard Dotzler, ZfL:
"Current Topics on Astronoetics". Zum Verhältnis von Fälschung und Information
20.00 Abendvortrag
Diedrich Diederichsen, Merz Akademie Stuttgart:
Sampling und Montage. Modelle anderer Autorschaften in der Kulturindustrie und ihre notwendige Nähe zum Diebstahl
Moderation: Anne-Kathrin Reulecke
Freitag, 31.10.2003
II. Autorschaften
Moderation: Ulrike Vedder
9.30 Martha Woodmansee, Case Western Res. Univ.:
The "Author Function". A Geopolitical Perspective
11.00 Justus Fetscher, ZfL:
Fälschung und Philologie. Überlegungen im Anschluß an Anthony Grafton
Anne-Kathrin Reulecke, TU Berlin:
Ohne Anführungszeichen. Literatur und Plagiat
III. Beweise der Fälschung – Fälschung der Beweise
Moderation: Erik Porath
14.30 Milos Vec, Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte, Frankfurt/M.:
Evidenz durch Technik. Identität und Repräsentation der Person in der Kriminalistik
um 1900
Ohad Parnes, ZfL:
Paul Kammerer und die moderne Genetik. Erwerbung und Vererbung verfälschter Eigenschaften
16.30 Kaffeepause
17.00 Federico di Trocchio, Università degli Studi di Lecce:
The Scientific Paper as a Fraud
Christoph Schneider, DFG:
Bandenkriminalität? Rohdaten im Zeitalter ihrer technischen Manipulierbarkeit
20.00 Podiumsdiskussion
Zum aktuellen Umgang mit Wissenschaftsfälschungen
Teilnehmer: Horst Czichos, TFH Berlin, Marco Finetti, SZ, Armin Himmelrath, SZ, Peter Hans Hofschneider, Max-Planck-Institut für Biochemie, Christoph Schneider, DFG, Stefanie Stegemann-Boehl, BMBF
Moderation: Ulrich Schnabel, DIE ZEIT
Samstag, 1.11.2003
IV. Original und Fake
Moderation: Sabine Flach
9.30 Stefan Römer, Köln:
Originalität in der konzeptuellen Kunst
11.00 Ursula Frohne, International University Bremen:
Déjà vu. Filmadaptionen in zeitgenössischen Videoarbeiten
Peter Geimer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin:
Kunstgeschichte des Falschen
V. Vorgeschichte der Fälschung – Fälschung der (Vor)Geschichte
Moderation: Hans-Christian von Herrmann
14.30 Reinhardt Butz, TU Dresden:
Die "Wiederherstellung" der Wahrheit und die "Schaffung" der Wahrheit mit
Hilfe von Urkunden
Daniel Weidner, ZfL:
Verfälschte Schrift. Zur Bibelkritik von Spinoza bis D.F. Strauss
17.00 Martin Treml, ZfL:
Text, Objekt, Ereignis. Fälschung in den Religionen
Claudine Cohen, Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales:
From Moulin-Quignon Jaw to Piltdown Man. Fakes and Proofs in Paleoanthropology
20.00 Abendvortrag
Carlo Ginzburg, UCLA:
Aping Nature. Reflections on a Medieval Metaphor
Moderation: Sigrid Weigel